der rote faden
: Statt zu meckern, lieber in den Abgrund gucken

Durch die Woche mit Ariane Lemme

Manchmal wundere ich mich. Zu unkontrovers hieß es gestern über die neue Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück. Ganz so, als sei’s recht gewesen, als letztes Jahr der sehr kontroverse Peter Handke gewonnen hat. Gut, da gab’s immerhin wochenlang Feuilletonstreit und Popcorn gratis, und hochpolitisch war’s obendrein.

Aber woher zum Teufel kommt eigentlich diese Annahme, dass Kunst politisch sein soll? Das geht für mich immer an jedem echten Verständnis vom Sinn und Zweck der Kunst vorbei. Streiten und kämpfen für eine bessere Welt sollte man unbedingt – auf der Straße, nicht auf der Leinwand. Auch wenn – das will ich ja auch nicht leugnen – viele Künstler es geschafft haben, beides sehr kunstvoll zu verbinden. Zugegeben, es ist also nicht ganz leicht, beides immer zu trennen.

Aber die Essenz, die Vollendung aller Kunst ist doch immer, wenn jemand über Milieus und unterschiedliche Lebenserfahrungen hinaus es schafft, etwas zu sagen, was alle Menschen gleichermaßen berühren kann. Weil er oder sie einen Funken dessen gefunden und geschliffen hat, was alle Menschen verbindet. Ehrlich gesagt kenne ich die Gedichte von Louise Glück nicht, bis auf ein paar, die ich seit gestern gelesen hab. Aber die Themen, die sie bearbeitet – Verrat, Verlust, Sterblichkeit – scheinen mir doch geeignet, ein paar dieser Funken zu bergen.

Popcorn

Vielleicht also – steile These – war die Entscheidung des Nobelkomitees keine konfliktscheue, sondern eine, die darauf abzielte, in einem Jahr, in dem alles auseinanderzufliegen zu scheint, in dem Kontroversen und gesellschaftliche Spaltung einfach the new normal sind, den Blick auf das zu lenken, was alle verbindet: die Angst vorm Sterben, die Angst, zurückgelassen, allein zu sein, die Angst, zu lieben und verletzt zu werden, und – damit verbunden – immer die Bereitschaft, zu betrügen. Sorry, viel komplexer ist der Mensch nicht, auch wenn infame Ungleichheit und brutale Unterdrückung ihm ganz unterschiedliche – manchmal keine – Möglichkeiten geben, zu leben und damit auch, mit dieser Angst umzugehen.

Klar, auch Louise Glück wird die US-Amerikaner nicht gegen Trump vereinen oder den Rassismus zähmen. Aber politischen Frieden stiften ist halt auch nicht die Aufgabe von Kunst, sondern, der Name verrät’s bereits, der Politik. Alles was Kunst kann und soll, ist ein bisschen tiefer unter die Laken der Diskurse und Debatten zu gucken. Im besten Fall bis runter auf den nackten Grund der Existenz. Was die Leser und Betrachter dann damit machen, ist ihre Sache.

Schöner Nebeneffekt: Oft erreicht man mit einem gemeinsamen Blick in den Abgrund mehr Verständnis bei den Menschen als mit ganz viel mit geschwungenem Zaunpfahl vorgetragener politischer Haltung.

Verbinden

Vielleicht aber auch nicht, denn es gibt ja wahnsinnig viel gute Kunst auf dem Markt, und trotzdem jährt sich heute – nur so als bitteres Beispiel – das Attentat von Halle.

Dieser grässliche Tag, an dem zwei Menschen ermordet wurden, zynischerweise auch noch an Jom Kippur, dem – einzigartiges und wunderschönes Judentum – Tag der Versöhnung, ist natürlich nur eine Erinnerung von vielen daran, dass es mit ein bisschen „Erkenne im anderen dich selbst“ nicht getan ist.

Dass die Politik immer wieder versagt darin, gegen Menschenhass vorzugehen – und zwar bevor jemand physisch verletzt wird. Es sind einfach zu viele Leute blind für den Menschen in ihrem Gegenüber. Und die wird man weder mit Kunst noch mit Gegendemos verändern.

Versöhnen

Lange war ich überzeugt, dass man auch ihre Demos – die der Rechten, der Rechtsextremen schützen muss, wir leben schließlich in einem freien Land und ich will, dass es so bleibt. Aber wohin hat es geführt? Haben sie die Freiheit deshalb lieben gelernt?

Nein, und deshalb glaube ich inzwischen, es braucht mehr rechtsstaatliche Härte gegen Extremismus, gegen Intoleranz und Hass. Dafür braucht es keine Kunst, dafür braucht es schnöde Politik.

Verbieten

Bevor man also über unpolitische Kunst und ihre Auszeichnungen meckert, sollte man sich – wenn man schon überhaupt ständig meckern muss, aber hey, wir leben ja in Berlin – die unkontroversten, zahnlosen Entscheidungen der Politik vornehmen.

Zum Beispiel die, mitten in der Pandemie – und nicht einmal ein Jahr nach dem antisemitisch motivierten Anschlag von Halle – eine Großdemo zu erlauben, auf der unter anderem übelste antisemitische Weltbilder propagiert wurden. Und um sich dann beim nächsten Gedenk- oder Festakt hinzustellen und davon zu lügen, dass alle Mensche sich in diesem Land sicher fühlen sollen.

Ganz ehrlich Berlin, musste das sein? Wenn ja, lese ich lieber weiter Literatur, ab und an auch ein bisschen Poesie.

Nächste Woche Nina Apin