Das Haus am Waldsängerpfad

Furchtlos und besessen: Der jüdische Theatermann Fritz Wisten überlebte die NS-Zeit in einem modernen Kubus in Berlin-Nikolassee. Thomas Blubacher hat die Geschichte des Hauses und seiner Familie aufgeschrieben

Juden durften nur für Juden spielen. Regisseur Fritz Wisten (rechts) und Mitglieder des Ensembles des Jüdischen Kulturbundes bei einer Kaffeepause Foto: Bildarchiv Pisarek/akg-images

Von Klaus Hillenbrand

Ein warmer Abend Anfang September im Berliner Vorort Nikolassee: Einige Dutzend Menschen haben sich in dem Garten mit seiner großen Wiese zwischen den Bäumen versammelt, der sich hinter diesem ungewöhnlichen Haus, gelegen an einer kopfsteingepflasterten Seitenstraße, verbirgt. Auf der Terrasse an einem Mikrofon stehend stellt der Verleger sein neues Buch vor, ein ehemaliger Staatssekretär spricht, ein bekannter Lektor redet und Kinder und Kindeskinder einer älteren Dame ergreifen das Wort.

Die Dame mit dunklem Haar heißt Eva Wisten, und auch sie sitzt auf dieser Terrasse neben dem Eingang zum Wohnzimmer, hört zu und ergreift dann kurz das Wort, um das Werk zu loben.

Es ist selten geworden, dass Protagonisten eines Buchs über die Verfolgung in der Nazizeit selbst zugegen sein können, wenn das Werk vorgestellt wird. Hier ist so ein Fall eingetreten – aber nicht nur in persona der 90 Jahre alten Eva Wisten, der jüngsten Tochter des Theaterregisseurs Fritz Wisten. Auch das ungewöhnliche Haus am Waldsängerpfad ist Teil der von Thomas Blubacher aufgeschriebenen Geschichte, denn hier lebte Familie Wisten seit dem Jahr 1934, und es ist seitdem, mit Unterbrechungen, das Zuhause von Eva.

Können nicht nur Menschen, sondern auch Häuser verfolgt werden? Wenn ja, dann trifft es auf diese Bauhaus-Architektur ganz gewiss zu. Der Architekt Peter Behrens hat es entworfen, Julius Gottheiner errichtete es 1929/30 für den Psychologie-Professor Kurt Levin: ein großer, zweigeschossiger und weißer Kubus, angeschlossen ist ein kleinerer mit Einliegerwohnung. Während der Rückreise von einer Gastprofessur in den USA erfuhr Levin 1933 von der Machtübernahme der Nationalsozialisten und entschloss sich dazu, nicht mehr in seine Heimatstadt zurückzukehren. Als Fritz Wistens Ehefrau Trude bald darauf nach einer Bleibe in Berlin suchte, bekam sie von ihrem Makler zu hören: „Es wird Ihnen nicht gefallen, es ist so entartet.“ Familie Wisten zog natürlich ein.

Familie Wisten war 1933 nicht ganz freiwillig nach Berlin gekommen. Der Schauspieler Fritz Wisten hatte aufgrund seiner jüdischen Herkunft sein Engagement in Stuttgart verloren. „Wir teilen Ihnen ergebenst mit, dass bei der beabsichtigten Neuordnung der Verhältnisse am Württ. Landestheater nicht mehr die Absicht besteht, Ihren Vertrag zu erneuern“, lautete das Kündigungsschreiben von Ende März 1933, damals, als die Nazis noch höflich die Juden aus ihren Anstellungen warfen, acht Jahre bevor sie sie systematisch umbrachten. Wisten erhielt 1933 Kunde von den Plänen zum Aufbau eines Jüdischen Kulturbunds in Berlin, in dem auch ein Theaterprogramm vorgesehen war. Es ist ein „Ghetto-Unternehmen“, Juden durften hier nur für Juden spielen, der Besuch der Vorstellungen von „Ariern“ war verboten. Fritz Wisten ließ sich dennoch engagieren.

Seine Frau Trude war evangelischer Konfession, und weil auch die Kinder Susanne und Eva getauft wurden, galten sie den Nazis als „Mischlinge ersten Grades“ und das Paar als „privilegierte Mischehe“ – Kategorien, die bald darauf über Leben und Tod entscheiden sollten. Als die Familie das Haus schließlich 1935 erwarb, wurde es nur auf den Namen der „Arierin“ Trude Wisten eingetragen.

Thomas Blubachers Buch nimmt uns mit ins Nikolassee der 1930er, als die Gegend noch nicht von der Naziprominenz, sondern vom Bildungsbürgertum geprägt war. Doch mit den Jahren verschwanden die jüdischen Namen auf den Klingelschildern der herrschaftlichen Villen. Dafür bekamen die Wistens so unangenehme Nachbarn wie Reichsfrauenführerin Getrud Scholtz-Klink oder den Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, Walter Gross.

In den ersten Jahren der NS-Herrschaft stieg Fritz Wisten zu einem der leitenden Figuren im Jüdischen Kulturbund auf, der, an der Leine von Staatskommissar Hans Hinkel, die jüdische Bevölkerung mit vornehmlich jüdischen Programmen zu unterhalten hatte. 1935 führte Wisten erstmals Regie. Doch die Scheinblüte des Unternehmens von Gnaden der Nazis nahm nach der Pogromnacht 1938 ein jähes Ende: Dem Aufführungsverbot folgte die Verhaftung der Mitarbeiter. Fritz Wisten wurde von seinem Arbeitszimmer im Waldsängerpfad in das KZ Sachsenhausen verschleppt. Seine Tochter Susanne musste seiner Verhaftung beiwohnen.

Wisten hatte Glück im Unglück; nach einigen Tagen entschied Hinkel, dass der Betrieb des Kulturbundes weitergehen müsse, und der Regisseur kam frei. Kahl geschoren und mit einer Lungenentzündung kehrte er zu seiner Familie zurück.

Danach änderte sich das Leben bei den Wistens radikal: „Wir haben unsere arischen Freunde kategorisiert: Wer hätte uns versteckt? Und da blieben nur wenige übrig“, zitiert Blubacher die 2019 verstorbene Tochter Susanne. Neben seiner Arbeit beim Kulturbund betrieb Fritz Wisten nun mit seiner Frau vor allem die Auswanderung der Familie – die nicht gelang. Die Emigration in die USA scheiterte an fehlenden Bürgschaften, Bemühungen um ein Exil in den Niederlanden und Großbritannien gingen fehl, Versuche mit Shanghai, Bolivien, Uruguay oder Trinidad blieben ergebnislos. Familie Wisten blieb im Waldsängerpfad, wo der Kubus von Peter Behrens zu einem Gefängnis mit Ausgang mutierte.

Mit Kriegsbeginn 1939 erhielt der Kulturbund erneut ein Aufführungsverbot, das im folgenden Jahr wieder aufgehoben wurde. 1941 begannen die Deportationen der deutschen Juden in den Osten, im selben Jahr wurde der Kulturbund endgültig aufgelöst. Wozu brauchten Todeskandidaten noch Kultur? Die Hausangestellte einer befreundeten Familie denunziert die Wistens. Bei einer Razzia im Waldsängerpfad erkundigte sich die Gestapo zuerst nach Fritz Wistens Schwiegervater, einem in der Sprache der Nazis „Volljuden“. „Der ist Gott sei Dank seit 14 Tagen tot“, habe die Mutter erklärt, erinnert sich Eva Wisten. Der Vater wurde ins Polizei­präsidium bestellt und dort festgehalten. Fritz Wisten kam nur dank der Fürsprache eines ­„arischen“ Freundes wieder frei.

1933 warfen die Nazis die Juden höflich aus ihren Anstellungen, acht Jahre später brachten sie die Juden um

Andere Menschen hätten mit den Zähnen geklappert und stillgehalten, so wie die Millionen, die selbst gar nicht verfolgt wurden – Trude und Fritz Wisten, die beide Zwangsarbeit leisten mussten, nicht. Sie boten Bekannten an, sie zu verstecken. Sie brachten den jüdischen Schauspieler Alfred Balthoff im Waldsängerpfad unter. Er war von der Gestapo gefasst worden, konnte aber aus der Straßenbahn fliehen. Paul Josph Meyer, Gynäkologe des Jüdischen Krankenhauses, übernachtete auf einem Sofa im Wohnzimmer.

Am 26. April 1945 rückten sowjetische Soldaten in den Waldsängerpfad vor. Die Naziherrschaft und der Krieg waren beendet.

Kaum der Verfolgung entronnen, brannte Fritz Wisten darauf, wieder Regie führen zu dürfen. Er war bei den Siegermächten nicht die erste Wahl, erhielt aber doch ein Engagement beim Deutschen Theater. 1946 avancierte er zum Intendanten des Theaters am Schiffbauerdamm in Ostberlin. Im beginnenden Kalten Krieg wird aus Fritz Wisten ein wortwörtlicher Grenzgänger, mit dem Haus in Westen und dem Job im Osten – und einer Mitgliedschaft in der SED. Über seine Beweggründe hätte man gerne mehr erfahren, doch an dieser Stelle bleibt Blubachers Buch, das sonst so detailreich noch den verschlungensten Spuren der wechselnden Nachbarn im Waldsängerpfad nachspürt, eine überraschend sparsame Lektüre.

Am 12. Dezember 1962 ist Fritz Wisten in seinem Haus verstorben. Seine Frau Trude folgte ihm im Jahr 1986.

Das Haus am Walsängerpfad aber steht, blendend weiß die Fassade, mit Eva Wisten als Bewohnerin. Und jetzt kann man auch endlich nachlesen, was alles Großartiges und Furchtbares hier geschehen ist.

Thomas Blubacher: „Das Haus am Waldsängerpfad. Wie Fritz Wistens Familie in Berlin die NS-Zeit überlebte“. Berenberg Verlag 2020, 189 Seiten, 20 Euro