: Jagd über die Dächer
Drei Jahre nach der Räumung der Mainzer Straße erschien die Soundcollage „14.11.90 – ein akustisches Psychogramm“ von Arurmukha. Jetzt ist das Album wieder veröffentlicht worden
Von Andreas Hartmann
Säuselnde Kaufhausmusik, dazu eine bedeutungsschwangere Stimme. Die sagt Dinge wie: „Die Welt schaut auf Berlin. Hier wächst aus Freiheit und Einheit die Zukunft.“ Plötzlich mischt sich in das pathetische Gerede ein anderer Sprecher in schnodderigem Tonfall ein. „Von wegen“, sagt er, oder: „Halt’s Maul, Alter.“ Ein Werbespot der SPD aus dem Jahr 1990, zu dem jemand seine eigene Meinung kundtut, ist der hörspielartige Einstieg in die Platte „14.11.90 – ein akustisches Psychogramm“ des Projekts Akurmukha, die einen für die Linken ganz besonderen Tag in Berlin in einer Art Toncollage beschreibt.
Das Album ist eine echte Kuriosität, die 1993 veröffentlicht und nun neu aufgelegt wurde. Kurz vor dem 30-jährigen Jubiläum der Ereignisse, die sie verarbeitet hat. Das Datum aus ihrem Titel ist der Tag, an dem in Berlin mehrere besetzte Häuser in der Mainzer Straße in Friedrichshain geräumt wurden. Die Bundesrepublik Deutschland war gerade erst ein wiedervereinigter Staat geworden und in Berlin regierte eine Koalition aus SPD und Alternativer Liste, einem Vorläufer der Grünen. Das, was sich damals in Friedrichshain ereignete, sollte die Koalition nicht überstehen. Kurz nach den brachialen Häuserräumungen ließ die AL das Bündnis platzen.
Drei Tage lang lieferten sich Besetzer und Polizei damals heftige Straßenschlachten. Die Polizei setzte Hubschrauber, Wasserwerfer und Tränengas ein, die Gegenseite warf Steine und Molotowcocktails. Tausende Polizisten, die auch aus anderen Bundesländern angefordert wurden, setzten gegen den Widerstand von ein paar hundert Hausbesetzern und Sympathisanten die Räumungen durch. Schaut man sich die Bilder von damals heute auf Youtube-Clips an, hat man das Gefühl, in Berlin habe es regelrecht einen Krieg gegeben. Es sind verstörende Bilder. Die hedonistischen Neunziger in Berlin und deren Uns-gehört-die-Welt-Gefühl stellt man sich eigentlich ganz anders vor.
Der Musiker und Künstler Marc Weiser und der Musikproduzent Jürgen Hendlmeier, die damals im gemeinsamen Bandprojekt Arurmukha vereint waren, standen selbst der Berliner Hausbesetzerszene der frühen Neunziger nahe. Marc Weiser war gerade erst von Düsseldorf nach Berlin gezogen und lebte in einem Haus in der Rigaer Straße 77, das er mit besetzt hatte, als die Polizei so massiv gegen alternative Lebensformen in seinem Kiez vorging. „Ich habe die gesamten Ereignisse als Zeitzeuge und Betroffener miterlebt“, sagt er in einem Gespräch mit der taz. „Am Tag der Räumung sind wir nicht mehr reingekommen in unsere Straße, sondern sind von der Polizei über die umliegenden Dächer gejagt worden. Wir mussten uns dann am Ende in der Wohnung eines normalen Bürgers verstecken“, so seine persönlichen Schilderungen.
Arurmukhas Platte „14.11.90 – ein akustisches Psychogramm“ ist ursprünglich zum dritten Jahrestag der Räumungen in der Mainzer Straße erschienen. Zu diesem Zeitpunkt war nicht mehr Walter Momper von der SPD Regierender Bürgermeister Berlins, sondern der CDU-Mann Eberhard Diepgen. Der kommt am Ende der Platte auch noch persönlich zu Wort. „Wozu sind diese Leute noch bereit? Wozu sind sie noch in der Lage?“, fragt er mit aufgebrachter Stimme. Im Kontext von Arurmukhas Platte sind seine Worte so zu verstehen, dass die Angst der Mächtigen vor autonomen Hausbesetzern auch nach dem November 1990 ungebrochen war. Vermutlich bezog sich Diepgen an dieser Stelle aber auf die Gewalt gegen die Einsatzkräfte.
„14.11.90“ ist ein musikalisches Zeitdokument, das an Dringlichkeit auch fast 30 Jahre später nichts verloren hat. Weiser und Hendlmeier arbeiteten damals hauptsächlich mit dem Sampler und verwendeten Field Recordings, die während der Straßenkämpfe aufgenommen wurden. Dräuender Post-Industrial beschwört eine apokalyptische Stimmung, dann rollen plötzlich Drum-&-Bass-artige Beats heran. Originaltöne von Anwohnern und Protestierenden werden mit Radioaufnahmen und Politikeraussagen kontrastiert. Dazwischen quietscht ein Saxofon und quengelt eine Trompete.
Atemlos und hektisch wird eine permanente Unruhe heraufbeschworen, ein verzweifelter Kampf genauso vertont wie das Gefühl von Machtlosigkeit. Um dann doch wieder in Hoffnung zu münden. Gegen Ende der Platte erklingt ein ruhiger, eindringlicher Popsong mit dem Titel „Trans-zen-dental“. Da heißt es: „Mach die Augen auf und sieh, die Welt gehört dir ganz allein. Ein neuer Tag beginnt, es liegt an dir, nicht zu verlieren und frei zu sein.“
Am 9. Oktober 2020 soll das Haus in der Liebigstraße 34 in Friedrichshain geräumt werden. Es ist eines der letzten besetzten Häuser in Berlin. Deren Bewohner haben bereits Widerstand gegen die Maßnahme angekündigt. Vielleicht stimmen sie sich ja mit „Trans-zen-dental“ darauf ein.
Arurmukha: „14.11.90 – ein akustisches Psychogramm“. Karl Records
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen