Weniger Platz für Grapscher in Tokio

In der japanischen Hauptstadt wird mit männerfreien U-Bahn-Wagen gegen sexuelle Belästigung von Frauen in den morgendlichen Stoßzeiten und zu Betriebsschluss experimentiert. Über 2.000 Frauen erstatteten im vergangenen Jahr Anzeige

AUS TOKIO MARCO KAUFFMANN

Um elf Uhr abends ist für Männer Schluss: In den Wagen eins der Keio-Linie dürfen nur noch Frauen. Bis zum letzten Zug, der vom Bahnhof Shinjuku Bier- und Sake-gestärkte Männerrunden in die Vororte befördert. Das gleiche Regime gilt am Morgen, wenn Hunderttausende nach Tokio-Shinjuku pendeln, dem Bahnhof mit dem höchsten Passagiervolumen der Welt. Die Züge verkehren im Zwei-Minuten-Takt und sind dennoch so voll, dass der Platz nicht reicht, eine Zeitung aufzuschlagen und man von den Essgewohnheiten der Mitfahrenden mehr mitbekommt, als einem lieb ist.

2.201 Frauen erstatteten im vergangenen Jahr in Tokio Anzeige wegen sexueller Belästigung im Zug. Dreimal so viele wie vor acht Jahren. Die meisten Vorfälle ereignen sich vor acht Uhr in der früh. Mehrere Bahngesellschaften zogen die Notbremse und setzen seit diesem Frühjahr männerfreie Wagen ein. „Das wäre schon längst angebracht gewesen“, findet Yumi Sakuma. „Viele japanischen Männer wissen sich nicht zu benehmen.“

Die 24-jährige Studentin bedauert, dass dieser Service noch nicht auf allen Strecken angeboten wird. „Wenn ich einen überfüllten Waggon betreten muss, nehme ich die Handtasche vorne hoch wie ein Schutzschild.“

Die Bahngesellschaft Keio machte vor fünf Jahren erste Versuche mit Frauenwagen – zur Jahresendsaison, wenn sich feucht-fröhliche Partys häufen. Seit Mai werden zu den Hauptverkehrszeiten und gegen Betriebsschluss männerfreie Waggons angeboten. Über eine definitive Einführung, so die Betreiber, werde nach einer umfassenden Befragung der Kunden entschieden. Eli Tashiro bemängelt etwa, die Frauenwagen seien entweder am Ende oder an der Spitze der Züge angehängt. „Die Bahnsteige sind sehr lang und überfüllt, ich verliere schnell fünf, sechs Minuten.“ Aber grundsätzlich hält sie das Experiment für geglückt: „Ich wurde mehrfach in voll gestopften Zügen angemacht – obwohl ich ja auch nicht mehr 20 bin“, lacht die 50-jährige Tashiro.

Bei der Bahngesellschaft Keio zieht man eine positive Zwischenbilanz. Die Befürchtung, die gemischten Waggons könnten nun noch überfüllter sein, habe sich als grundlos erwiesen. „Das neue System bietet mehr Sicherheit für die weibliche und die männliche Kundschaft“, betont das Unternehmen. Männer seien vom Risiko befreit, als Belästiger verdächtigt zu werden.

Kodai Sato, ein 22-jähriger Student findet die Frauenwagen „im Prinzip okay.“ Aber eigentlich seien es ältere Männer, die Frauen belästigten. In Leserbriefen beklagen sich derweil Japaner, die Frauen würden bevorteilt und hätten mehr Platz als die männliche Kundschaft. Das sei ungerecht.

Die neuen Regeln kleben gut sichtbar an den Außenscheiben der Frauenwagen. Am Boden des Bahnsteigs markieren zudem rosa Tafeln, wo der Frauenwagen zum Stehen kommt und der Zugbegleiter ruft über Lautsprecher in Erinnerung: „Bitte beachten Sie, der letzte Wagen ist nur für Frauen.“ Vorfälle, bei denen Zugbegleiter hätten einschreiten müssen, gab es auf der Keio-Linie keine. In den ersten Wochen patrouillierten vermehrt Polizisten in den Bahnhöfen und zivile Beamte in den Zügen. Tomomi Fukaya, eine 18-jährige Gymnasiastin, erlebte nur einmal, wie sich ein Mann in den Frauenwagen setzte. „Niemand sagte was, plötzlich rannte er wie von einer Tarantel gestochen raus. Offensichtlich ein Versehen.“

Gibt es nach zwei Monaten bereits Anzeichen für eine Trendwende? Werden weniger Grapscher angezeigt? Für schlüssige Aussagen sei es zu früh, heißt es bei Tokios Polizei. Im Übrigen sei es schwierig, zu beurteilen, ob die Übergriffe auf Frauen in den vergangenen Jahren tatsächlich so stark zugenommen haben oder ob einfach mehr Anzeigen erstattet wurden.

1996 wurde im Tokioter Hauptbahnhof erstmals eine Meldestelle für Opfer sexueller Belästigung eingerichtet. An mehreren Polizeiposten sind seither speziell ausgebildete Beamtinnen stationiert. Diese Maßnahmen, vermutet die Polizei, haben die Frauen dazu bewogen, ihr Schweigen zu brechen. Auch die Handy-Technologie spielt ein Rolle: Zwar benutzten Lüstlinge die eingebauten Minikameras, um Frauen unter die Röcke zu filmen. Doch umgekehrt soll es nicht wenigen Opfern gelungen sein, mit ihrem Handy den Täter zu knipsen.