Zwischen Panik und neuem Normal

Seit sechs Monaten hat Corona den Alltag jetzt schon im Griff. Eine Bilanz in sechs subjektiven Perspektiven

Wann werden wir uns je wieder ausgelassen begegnen? Straßenszene in Berlin. Rechte Seite: selbst genähte Masken auf der Leine Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Plötzlich wurde die Familie extrem wichtig

Von Elke Eckert

Wenn ich mir ein Symbol für meine Coronazeit vorstelle, sehe ich eine Kurve, die blitzschnell steil ansteigt, eine Weile auf dem hohen Niveau verharrt und dann schnell abflacht. Nicht auf das Niveau von davor, sondern etwas höher. Und mit Zacken drin.

Am 16. März ging Deutschland in den Lockdown. Eine Woche davor hatte ich mit meinem Cousin, einem Geriatrie-Arzt in Turin, telefoniert. Er durfte nicht mehr vor die Tür, außer zur Arbeit und zum Einkaufen. Und um allein zu joggen. Seine 84-jährige Mutter hatte er schon im Februar auf ihr Landhaus am Rand des Piemont-Gebirges weggebracht. Sie ist immer noch dort. Seine Tochter war seit Anfang des Monats zu Hause, keine Schule. Panik brach bei mir aus.

Unser ältester Sohn war Ende Februar nach Portugal gefahren, um dort für ein halbes Jahr zu arbeiten. Ich bat ihn inständig, nach Hause zu kommen. Wie eine Glucke, die bei Gefahr ihre Kücken um sich versammelt. Keine Chance. Er blieb und akzeptierte sogar zehn Wochen Isolation in einem Sannyasin-Yoga-Zentrum.

Als die Schulen am 16. März schlossen und wir von einem Tag auf den anderen alle zu Hause blieben und uns unsere Arbeitsecken suchten, kehrte ein wenig Ruhe ein. Der Große im Yogazentrum isoliert, der Rest bei mir zu Hause auf dem Land, meine Eltern und meine Schwester und ihre Familie in Sicherheit. Plötzlich wurde die Familie extrem wichtig. Wie im Katastrophenfilm.

Ich hielt mich streng an alle Regeln: keine Besuche, Klopapier horten. Nur einmal in der Woche einkaufen gehen. Viel telefonieren und whatsappen.

Lange hielt ich es nicht durch. Was ist schon dabei, sich mit Abstand zu Kaffee oder Wein im Garten zu treffen? Die Nachbarin einer Freundin bemerkte durch den heckenbewehrten Gartenzaun: Sie haben wohl Besuch? Panik, aber auch ein wenig Stolz. Immer mehr Schritte in Richtung Freiheit. Spazieren gehen zu zweit. Heimlich baden im See.

Die große Freiheit kam mit dem E-Bike. Plötzlich konnten wir große Strecken zurücklegen ohne die Panik, die einen in öffentlichen Verkehrsmitteln befällt. Ich fuhr zur Arbeit, 40 Kilometer hin und 40 zurück. An den Werbellinsee, 80 Kilometer Ausflug. Ich bin noch keine Rentnerin, sagten die Freundinnen, aber liehen sich das Fahrrad dann doch aus.

Corona hat viel verändert. Keine großen Partys mehr, aber ich habe alle meine Freundinnen gesehen. Ich bin noch nie so viel spazieren gegangen, geschwommen und Rad gefahren in einem Sommer. Und habe noch nie so viel im Garten gearbeitet (und trotzdem eine schlechte Ernte gehabt).

Es ist komisch, Menschen zu begegnen, sich einfach doch mal in den Arm zu nehmen, weil man es so lange nicht mehr getan hat. Und dann ein schlechtes Gewissen zu haben. Dann vielleicht doch lieber ein bisschen spöttisch sich mit gefalteten Händen verneigen, gar mit dem Ellenbogen sich stupsen? Irgendwie alles albern, aber weil es alle seltsam finden, können wir uns ins Lachen retten.

Her şey çok güzel olacak

Von Ulrich Gutmair

Maske heißt auf Türkisch Maske. Wer in der Türkei das Haus verlässt, ist verpflichtet, den Mund-Nasen-Schutz übers Gesicht ziehen. Deswegen sieht man auf den Straßen selten Menschen ohne Maske.

In den vergangenen elf Monaten war ich zweimal in Istanbul. Im Winter und im Sommer, nach den Ausgangssperren, die jedes Mal bedeuteten, dass die Istanbuler vier Tage lang ihre Wohnung nicht verlassen durften. In den Phasen dazwischen herrschte ein striktes Regime. Spazierengehen am Bosporus? Verboten.

Als ich das hörte, kam mir die Berliner Lockdownzeit wie das Paradies vor. Es waren sonntags fast keine Autos gefahren, ich hatte Radtouren durch die Stadt gemacht. Es schien wie eine Reprise auf die Zeit kurz nach dem Mauerfall. Ich fuhr nachts durch leere Straßen, und das fühlte sich nicht apokalyptisch an, sondern utopisch. Das erhabene Gefühl, die Welt gehöre einem allein, stellte sich ein, so ähnlich, wie nachts zu schreiben und zu sehen, dass nirgends mehr Licht brennt.

Im Winter fuhr ich in Istanbul von der Kulturakademie Tarabya, wo ich wohnte, oft mit der U-Bahn Richtung Taksimplatz. Abends oder nachts wieder zurück. Bürgermeister Ekrem İmam­oğlu hatte gegen Skeptiker (das lohnt sich nicht) und Sittsamkeitsideologen (die jungen Leute sollen nachts gefälligst nach Hause gehen) durchgesetzt, dass die Metro am Wochenende durchfährt. Es war wohl eine der Maßnahmen, um das Wahlkampfmotto einzulösen, das ein 14-jähriger Fan von Ekrem Abi geprägt hatte: Her şey çok güzel olacak. Alles wird so schön werden.

Tagsüber war die U-Bahn voll. Es ging diszipliniert zu, aber saisongemäß wurde viel gehustet und geniest. Im Dezember hörte ich von der Epidemie in China. Die Idee, dass man die Ausbreitung eines Virus, das per Tröpfcheninfektion verbreitet wird, lokal eindämmen könnte, kam mir absurd vor. An Weihnachten hatte ich einen hartnäckigen Infekt, ich musste zwei Wochen lang husten. Ich huste sonst nie.

Die Filter und Routinen, die uns im Alltag vor sensorischer Überwältigung schützen, funk­tio­nieren an fremden Orten nicht mehr. Man registriert, beobachtet, sinniert. Im Sommer fragte ich mich, wann man Fünfe gerade sein lassen kann und die Maske leger über den Arm streifen. Auf der Promenade nahm ich sie oft ab. Auf dem offenen Deck der Fähren behalten sie die meisten auf. Manche nehmen sie ab und setzen sie nur kurz wieder auf, wenn neue Passagiere an Bord kommen. Für Frauen mit Kopftüchern gibt es Plastikteile, mit denen man die Schlaufen der Maske hinter dem Kopf zusammenhalten kann.

Oft habe ich im Winter vor der Ziba Bar gesessen. Manchmal setzte sich einer der Straßenkatzen auf meinen Schoß. Vor den Istanbuler Bars und Restaurants sind meist Heizungen angebracht, die von oben wärmen. Man muss beim Biertrinken nur für warme Füße sorgen. Ich hoffe auf die Renaissance des Heizpilzes in Berlin. Er wird uns über den Winter retten.

Unter der letzten Überlebenden

Von Tania Martini

Die Nekrose war locker, leicht feucht mit gelben Ablagerungen, die Haut drumherum violett schimmernd, dabei prall und aufgedunsen, erfroren wirkte sie. Es war Frühling. Einige Furchen und Läsionen weiter blitzte ein gräulicher Schorf unter einem Hemdfetzen hervor. Die Wundumgebung war ein Körper, der sich nur langsam fortbewegte. In jedem seiner Schritte lag die Drohung zu stürzen. Und nie wieder aufzustehen.

Ich dachte an den süßlichen Geruch von Verwesung in dem Haus in Wien, in dem ich gelebt hatte. Eine Frau war in ihrer Wohnung gestorben. Als man sie entdeckte, hatte bereits jede:r im Haus für sich eine Lösung aus Räucherstäbchen, Duftkerzen oder Raumsprays gefunden. Ich hatte zu dieser Zeit Diptyque Paris entdeckt.

Die Hose bedeckte Penis und Skrotum nur noch notdürftig. Er ging auf die Knie. Zwischen Altpapier- und Biotonne rann kurze Zeit später sein Urin übers Pflaster. Er kippte zur Seite, der Ellbogen knickte weg, er sank zu Boden. Wie jung er doch noch war! Und wie es wohl gewesen ist, als er drei Jahre alt war? Oder 15.

Ein anderer brüllte. Ich verstand nur „Messer“. Vielleicht fühlte der gar nichts, obwohl er brüllte. Ein paar Meter weiter weinte eine Frau. Ihr graues Haar war verfilzt, und aus ihrer Nase tropfte dünnflüssiges Sekret. War es möglich, dass auch sie nichts fühlte, obwohl sie weinte?

Unsere Wohung war unser Kokon geworden, und unsere Welt schrumpfte von Tag zu Tag mehr, während die Rituale immer mehr wurden. Jede Zeitung und jede Nachrichtensendung erwarteten wir in Aufregung, manchmal stündlich. Die Anrufe wurden immer weniger.

Ein alter Bekannter suchte uns zu Hause auf. Bei unserer letzten zufälligen Begegnung war er Gelegenheitstrinker. Nun sah er nach Nekrose aus. Er hatte sich eingepinkelt. Vielleicht zum ersten Mal, denn in der einen Hand trug er noch die Designertasche aus aufgeräumteren Zeiten, in der anderen eine Flasche Bier. Ich gab ihm all das Geld, was ich in meinem Portemonnaie und in der Kommode finden konnte. Hauptsache, er würde ganz schnell wieder verschwinden.

Manchmal, wenn ich aus dem Fenster schaute, stellte ich mir vor, fast alle Menschen in dieser Stadt wären schon tot. Das ging recht gut. Denn im Park vor dem Haus gab es nur noch einen leeren Spielplatz und Autos. Wenig später wären sie unter all den Linden vom Blattlauskot verklebt. Zwischen Klettergerüsten und Autos tauchten immer wieder kleine Menschengruppen auf. Marodeure, Verlorene, Körper mit Nekrosen. Man konnte sich das so leicht vorstellen, auch dass sie die letzten Überlebenden wären – auf der Suche nach Essbarem. Bald würden sie sich gegenseitig erschlagen.

Irgendwas zwang mich, das wieder und wieder zu denken, obwohl ich es nicht wollte. Waren sie schon immer da und so viele gewesen oder konnte man sie jetzt nur besser sehen? Oder hatte ich sie bloß anders angeschaut?

Aus zu Rettenden waren Verlorene geworden. Wie war das möglich?

In Zeiten abnehmender Sicherheit

Von Andreas Fanizadeh

In der Krise findet eine Gesellschaft häufig zu sich selbst, oder sie potenziert ihre Konflikte. Wie ist es ein halbes Jahr nach Beginn der Coronapandemie, wie steht es um die Stimmung in der Republik? Mein inneres Politbarometer sagt mir: gemischt. Es geht ähnlich weiter wie zuvor.

Ein Freund erzählt von der Schule seines Sohnes. Dort werden jetzt – sechs Monate nach Beginn der Pandemie und nach Ende der Sommerferien – die maroden Fenster ausgetauscht. Abgeschraubte Fenstergriffe, die Scheiben drohten herausfallen.

Aber man soll ja jetzt lüften können, sagen die Behörden. Über dreißig Schüler:innnen finden sich, ohne Abstandsregeln einhalten zu können, zum täglichen Präsenzunterricht in den engen Klassenräumen ein. Über Internet braucht man hier nicht zu reden, Bücher wären schon ganz schön. Ein staatliches Gymnasium im Osten Berlins.

Jugendliche haben generell eher Probleme mit den Hygieneregeln. Nach dem, was sie alltäglich erleben oder von Demos in den Medien sehen, umso mehr. Manche sind im Coronasommer wohl bereits zu jungen Zyniker:innen mutiert.

Vor dem Schwimmbad im Wedding stehen ein paar Migrantenkinder. Sie diskutieren mit dem Einlasspersonal. Ohne App, Smartphone und Konto kommt niemand mehr in die städtischen Bäder Berlins. Vorher digital anmelden und bezahlen. Ein Traum für Badewärter:innen und Profischwimmer:innen: öffentliche Bäder ganz ohne Kinder.

Im Corona-TV konnte man während des Lockdowns fix und fertige Eltern sehen. Manche weinten. Sie mussten in den Coronaferien sehr viel Zeit mit ihren Kindern verbringen. Die enttäuschten Kinder und Jugendlichen sieht man, hingegen nicht die, die jetzt in überfüllten Zügen und Schulen sitzen, während Sportwettbewerbe weiter eingeschränkt bleiben. Punktgenau zum Ligastart hat der Berliner Fußballverband die Meisterschaften amputiert. 2020/21 spielen Junioren und Juniorinnen nur noch Hinrunde, keine Rückrunde. Sport im Freien, da lauert also die Gefahr. Die (vorsichtige!) taz lässt derzeit Konferenzen mit maximal 16 Personen im Gebäude zu. Ihr Konferenzraum hat nicht annähernd die Maße eines Strafraums eines Fußballfelds. Logik?

Konstant scheint auch das „systemkritische“ Theater dort weiterzumachen, wo es vor Corona aufgehört hat. Am Gorki Theater Berlin hat Sebastian Nüblings Inszenierung der „Schwarze Block“ nach Kevin Rittberger Premiere. Ästhetisch anspruchsvoll – tolle SchauspielerInnen, packende Live-Kamera-Szenen aus dem Freien übertragen, räumlich überragender Sound –, doch eine an ideologischer Einfalt kaum zu überbietende Textspur. „Staat, Nation, Kapital? Scheiße!“ Politfolklore im Geiste der Dimitroff-Thesen von 1933. Von Autonomie, Antifa und Militanz wenig Ahnung. Und auf den Stufen zum Reichstag? Drei Polizisten, die sich Faschisten und Coronaleugnern entgegenstellen.

Trauriger Radarblick

Von Dirk Knipphals

Berlin-Schöneberg ist ein ziemlich vernünftiger Stadtteil. Das hedonistisch-antiautoritäre Erbe der Westberliner Jahre ist in die DNA der Kieze eingedrungen, in die Weinläden, die Bürger-Inis und Yogastudios. Queersein ist normal, Normalsein auch. Paare, die sich in Neukölln ausprobiert haben, ziehen – wenn sie eine Wohnung finden – hierher, um ihre Kinder großzuziehen. Es gibt eine selbstbewusste türkische Community. Und der Reichstag mag keine vier Kilometer entfernt sein, die Anti-Corona-Demos und Diktaturfantasien spielen doch in einem Paralleluniversum.

Vielleicht ist Schöneberg gerade deshalb ein guter Ort, um über die ersten sechs Monate mit Corona nachzudenken. Corona, das ist hier kein Ausnahmezustand mehr. Doch dafür kann man eben hier sehen, wie gründlich sich die Realität längst verschoben hat.

Zum Beispiel auf dem fußballplatzgroßen Kinderspielplatz am Lassenpark mit Dutzenden von Klettermöglichkeiten und sogar einer Märchenburg. Wer daran vorbeiläuft, hat ganz bestimmt den Eindruck, die Kinder würden inzwischen wieder wild durcheinandertoben. Doch wenn man als beaufsichtigendes Elternteil daran teilnimmt, sieht man es anders. Zwischen den einzelnen Kleinfamilien herrscht ein kleiner, aber sorgfältig eingehaltener Abstand. In die Nestschaukel setzt niemand sein Kind, wenn da schon ein anderes sitzt. Es gibt Vierjährige, die Zweijährige ermahnen, ihnen auf der Rutsche nicht zu nahe zu kommen, „wegen Corona, weißt du“.

Anderes Beispiel: die niedrige Mauer, die das Rasenstück rund um die Apostel-Paulus-Kirche von der Akazienstraße abgrenzt. Man trifft sich jetzt halt nicht mehr zu Hause, sondern dort, bringt eine Flasche Chablis mit oder holt sich vom Späti gegenüber ein Bier. Man sieht Jugendliche, aber auch alte Freunde, Kolleginnen unter sich, Nachbarn. Solange das Wetter mitspielt, ist das alles ganz schön. Und auch da: kleine Gruppen, meist eh Zweierkonstellationen, und dazwischen sorgfältiger Abstand. Die Zeiten, in denen einem hier die Leute umstandslos auf die Pelle rückten, beim Schlangestehen, aber auch auf den Bürgersteigen, sie sind definitiv vorbei.

Wenn ich jetzt hier durch die Straßen gehe, kommt mir vieles wie eine Illustration von Norbert Elias' „Prozess der Zivilisation“ vor. Berlin, das hatte, von Proll bis Boheme, ja immer etwas Expressives: vorgezeigte Selbstverwirklichung, hemdsärmelige Kommunikation. Da, wo ich wohne, herrscht aber inzwischen Abstand, Affektkontrolle, ein ständiger Radarblick, wo es eng werden könnte und man dann halt lieber nicht langgeht (Ausnahmen bestätigen die Regel). Das ist auszuhalten, ja, alternativlos auch, aber zwischendurch überfällt einen auch immer wieder der Gedanke, dass es traurig ist. Und vor allem auch erst einmal so bleiben wird, wer weiß, wie lange.

Der nächste Winter wird hart, denkt man. Und: Wann werden wir uns einmal wieder ausgelassen und entspannt begegnen? Das Leben ist enger geworden.

Was neben dem Homeoffice bleibt

Von Sophia Zessnik

Ein halbes Jahr herrscht bei uns nun der Ausnahmezustand, und eigentlich ist alles wie zuvor auch. In meinem Leben jedenfalls; keine Clubs, keine Bars, am liebsten auf dem heimischen Sofa – vermissen tue ich trotz Corona kaum etwas.

Es mag zynisch klingen, doch mir kommt es so vor, als seien viele Sicherheitsmaßnahmen zu früh gelockert worden. Gut, während andere nach eineinhalb Monaten bereits auf dem Zahnfleisch liefen, hatte ich mich gerade mal an die Begebenheiten gewöhnt und geschafft, mir neue Strukturen zu schaffen. Ganz anders, als es Max Frisch einmal beschrieb, war der Krisenzustand für mich aber in keinster Weise produktiv. Laut Frisch hätte ich dem Lockdown und was ihm folgte, den Beigeschmack der Katastrophe nehmen müssen, um etwas Ertragreiches zu schaffen. Daran bin ich erfolgreich gescheitert – mein inneres Katastrophenmanagement versagte kläglich. Die Pflichten zu erfüllen und nicht völlig eins zu werden mit meiner Jogginghose kostete mich derart viel Kraft, dass jeder Anflug von Kreativität dahinschmolz.

Sicher etwas neidisch, aber auch extrem genervt schaute ich anderen in den sozialen Medien bei ihren Missionen der Selbstverwirklichung zu. Camus lesen, Brot backen, dem Traumkörper entgegenstählen – mir schien, jede*r war in der Lage, die Coronakrise für sich in maximale Produktivität umzuwandeln. Natürlich kann auch ich abstrahieren, zwischen dem Glamour der Instagram-Welt und dem tatsächlichen Alltag, der gegen all die gefilterten Fotos und Storys profan wirkt. Plötzlich aber bekam man ja nichts mehr mit von all den Missgeschicken und Fehlschlägen, die sonst in Nebensätzen und Untertönen mitschwingen. Plötzlich fand alles nur mehr in diesem Internet statt und metamorphosierte sich in meinen Gedanken zu ­einer schönen neuen Welt, zu der mir aus unerfindlichen Gründen der Zugang verwehrt blieb.

Statt also die vermeintlich gewonnene Zeit für Klassiker im Buch- und Filmbereich zu nutzen, gestaltete ich, was neben dem Homeoffice an Freizeit blieb, extrem sinnlos. So sah ich meinen geliebten „Friends“ zum sicher 472. Mal beim Existieren zu. Das sind immerhin 236 Folgen à circa 25 Minuten verschenkte Lebenszeit. Verschenkt, weil ich bereits jede einzelne Sequenz sowieso schon mitsprechen konnte.

Extrem sinnlos, wenn nicht gar fahrlässig in Anbetracht eines die Atemwege befallenden Virus ist auch ein neues, altes Laster, dem ich seit der Pandemie wieder allzu beherzt fröne. Unnötig zu erwähnen, welches, hätte ich mir dafür definitiv einen passenderen Augenblick aussuchen können. Nämlich nie. Über so viel Verantwortungslosigkeit kann ich eigentlich nur den Kopf schütteln. Doch wie auch Coronaleugner*innen und Verschwörungsideolog*innen beweisen, bringt eine Ausnahmesituation wohl vor allem eines in den Menschen hervor: das Dümmste.