Wie darf sich wer literarisch was aneignen?
Über Identitätspolitik und Literatur dreht sich eine Diskussion im Berliner Brechtforum. Die taz dokumentiert die Eingangsstatements
Von Özlem Özgül Dündar
Von meiner eigenen Schreibarbeit weiß ich, wie schwer es ist, die passende Erzähler*in für einen Text zu finden. Schreibe ich aus einer Perspektive, die ich kaum kenne, weiß ich oft erst einmal nicht genug über denjenigen Menschen, und wie spricht einer, aus dessen Mund ich nie gesprochen habe?
Jemandem in einem literarischen Text eine Stimme zu geben bedeutet für mich nicht nur, für diese Person zu sprechen, ihre Geschichte bekannt zu machen, sondern es bedeutet auch immer, dieser Stimme eine Erzähler*in zu geben, denn nur mit Stimme geht es nicht. Und da fängt mein Dilemma als Autorin schon an. Und dies ist im besten Fall ein Dilemma, ein Konflikt, der mit jedem Wort auf dem Bildschirm neu verhandelt werden muss. Die Abwesenheit dieses Dilemmas beim Schreiben kann ich mir nicht denken. Tu ich der Figur recht mit diesem Wort, würde sie dieses Wort sagen, oder wie weit darf ich den Sprechduktus ausdehnen zum Zwecke der literarischen Darstellung? Darf ich überhaupt etwas ausdehnen oder verkürzen, und weiß ich überhaupt, was ich da schreibe, kenne ich mich genug aus, hab ich genug recherchiert, wie viel muss ich recherchieren, bis ich genug weiß?
Als Autorin stellt sich für mich nicht die Frage, ob man sich Stimmen aneignen darf, sondern die Frage ist für mich vielmehr, wie darf man sich diese Stimmen aneignen? Literatur ist immer ein Versuch des Nachvollziehens von etwas mit der Hilfe von Worten, sich etwas zu nähern, wozu man sonst keinen Zugang hat, zum Beispiel der Gedankenwelt eines anderen Menschen. Für mich ist die Frage wichtig, ob es gut recherchiert wurde und ob die Geschichte keine Stereotype reproduziert und ob ich als Autorin nicht mit einem erhobenen moralischen Finger daherkomme, aber wie ich das hinkriege, der Weg dahin führt durch den großen kniffligen Wollknoll vor mir – den zu schreibenden Text.
Von Özlem Özgül Dündar erschien 2018 der Lyrikband „Gedanken Zerren“ (Elif-Verlag)
Statements Über „Literarische Aneignung“ und die Frage, wer wie über wen schreiben darf, diskutieren die Autor*innen am 17. 9. im Berliner Literaturforum im Brecht-Haus. Die taz dokumentiert hiermit die Statements, die die drei Autor*innen zum Beginn der Diskussion vorlegen. Einen Input-Vortrag gibt Saba-Nur Cheema.
Hintergrund Die Debatte über literarische Aneignung ist in der USA spätestens nach Jeanine Cummins Thriller „American Dirt“ voll entbrannt – im Zuge identitätspolitischer Fragestellungen wird sie auch in Deutschland zunehmend geführt.
Veranstaltung Die Reihe „Richtige Literatur im Falschen“ ist eine Kooperationsveranstaltung des Literaturforums im Brecht-Haus mit Helle Panke e. V. Ein Videostream der Veranstaltung wird in Kürze auf www.lfbrecht.de zur Verfügung gestellt.