: Heimkehren geht nicht
Wer die Front übersteht, fällt ins Nichts einer desinteressierten Nachkriegsgesellschaft: Luise Voigt inszeniert Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ in Oldenburg als Drama vereinzelt Verlorener, Premieren-Reenactment inklusive – ein gelungener Saisonauftakt
Von Jens Fischer
Da kommt ein Schauspieler in trauernd verunsicherter Haltung auf die Bühne und kündigt ein Stück an, „das kein Publikum sehen will“. Vorab aber müsse er leider mitteilen. Gestern sei der Autor des Stücks gestorben. Der Bitte, sich für eine Schweigeminute zu erheben, kommt das Publikum prompt nach. So ähnlich muss es sich am 21. November 1947 in den Hamburger Kammerspielen zugetragen haben. Anstatt eines jungen Mannes soll aber damals Hausherrin Ida Ehre vor der „Draußen vor der Tür“-Uraufführung den Tod Wolfgang Borcherts verkündet haben.
Mit dem Versuch eines Reenactments verblüfft jetzt am Staatstheater Oldenburg Regisseurin Luise Voigt. Theatermuseum live? Oder will sie das vermaledeite Coronajahr 2020 zum Anlass nehmen, nach diesem Prolog auch den einstigen Antikriegshit in karg finsterer Ästhetik der 1940er-Jahre nachzubasteln? Und dass, wo sie sonst doch mit Video, Rauminstallationen, aufwendigen Tonzuspielungen, Musik, Lichtdesign und Textdekonstruktion das Herz dramatischer Vorlagen multimedial zu überformen und dabei zu sezieren versucht?
In diesem Fall ließen sich mit solchen Mitteln prima aktuelle Assoziationen realisieren. Die Stimme des Protagonisten Beckmann, ehemaliger Wehrmachtssoldat, dem zwei Jahre nach dem Weltkriegsende die Tür der Gesellschaft verschlossen bleibt, könnte heute die Geflüchteter aus Kriegsgebieten sein. Oder eines traumatisiert aus Afghanistan zurückkehrenden Bundeswehrangehörigen. Eines gehandicapten Menschen. Oder eines im Seniorenheim vereinsamenden Corona-Risikogruppenangehörigen.
Keine Aktualisierung
Aber Voigt verzichtet auf derartige Aktualisierung, nutzt konzentrierend sparsam die Hightech-Segnungen der Bühnentechnik und orientiert sich umso genauer an der gekürzten, dezent umgearbeiteten Vorlage. Trümpfe ihrer Inszenierung sind ein symbolisches Setting und die gefühlsbetonte Darstellungswucht von Fabian Kulp, der den leidvollen, an Wunden reichen Beckmann mit unendlich erschöpftem Blick spielt.
Beckmann hat ein Kriegsgefangenenlager in Sibirien ausgespuckt, aber jede Willkommensgeste verweigert ihm die Heimatstadt: Seine Frau ist inzwischen mit einem anderen Mann liiert, die Eltern haben sich als überzeugte Nazis selbst gerichtet, Daheimgebliebene verhöhnen ihn. Wie im Fieber wandert er durch die Ruinen Hamburgs, findet sich nicht mehr zurecht, gepeinigt von rasenden Erinnerungen, die nach und nach auch Gestalt auf der Bühne gewinnen. Wo früher sein Selbst mit Denken beschäftigt war, schreien nun die Menschen, die er als Unteroffizier in den Tod geführt hat.
Als blickten die Zuschauer in Beckmanns Kopf, hat Voigt die drangsalierend vorüberziehenden Momente inszeniert. Hauptdarsteller Kulp zeigt dabei betörend deutlich, dass hier gerade kein Kriegsheimkehrerstück gezeigt werden kann, als welches „Draußen vor der Tür“ die Theaterhistorie bezeichnet: Aus Kriegen kann niemand heimkommen, schließlich gibt es die verlassene Heimat gar nicht mehr. Zerstört ist sie. Wer in den Stahlgewittern nicht gefallen ist, fällt anschließend ins Nichts der Nachkriegsgesellschaft – in diesem Fall in eine schwarztrunkene Bühnenleere.
„Wir sind die Generation ohne Bindung und ohne Tiefe. Unsere Tiefe ist der Abgrund“, so lautet das auf dem Hamburger Borchert-Denkmal eingemeißelte Zitat. Die Tiefe und den Abgrund des Stücks definiert erst mal die Elbe – als Styx. Wasser bedeckt den Oldenburger Bühnenboden, auf dem Beckmann mit einem Waveboard herumkurvt. Er wackelt und schwankt, will aufrecht bleiben. Manchmal sieht es aber auch aus, als schwebte er übers Wasser, angstlustvoll mit dem eigenen Untergang beschäftigt. Denn nur der Selbstmord scheint ihm das einzig noch mögliche Glück zu bescheren – endlich mal wieder pennen.
Aber nicht mal die Elbe will ihn ja haben. Von einer Leinwand herab spricht der Fluss mit viskos schimmernder Fratze zu Beckmann. Als inneren Dialogpartner stellt Voigt ihm noch ein Kind beiseite, das mit Durchhalteparolen zum Weiterleben überreden will. Der Tod (Musiker Dani Catalan) vertont derweil nicht – wie von Borchert notiert – auf einem Menschenknochenxylophon den Irrsinn des Daseins, sondern akzentuiert auf handelsüblichen Schlaginstrumenten den rasenden Rhythmus der Sprache; putscht emotionale Aufschwünge und verschweißt mit melodischen Floskeln die Trümmerpoesie immer wieder neu. Borchert wird geradezu gefeiert als expressionistischer Autor und existenzialistischer Denker. Die Figur „Gott“ ist daher gestrichen, stattdessen wird die mögliche Selbstermächtigung des Verzweifelten beschworen.
Wie einen Fisch, heißt es im Text, soll ein Mädchen (Rebecca Seidel) den Beckmann angeln. Voigt nimmt das ziemlich wörtlich: lässt es an Seilen wie eine engelige Möwe hereinschweben und den Mann zu sich hinaufziehen. Beide suchen ein bisschen Wärme, Nähe, Menschlichkeit, Geborgenheit – aber dazu kommt es nicht. Des Mädchens versehrter Gatte humpelt auf einem Bein herein und lässt das Tête-à-Tête platzen.
Die Projektion ruckelt
Es scheitert auch Beckmanns Versuch, etwas von der seit Kriegstagen peinigenden Verantwortungslast an den ehemaligen Vorgesetzten zurückzugeben: Wie durch ein Fenster schaut er auf die Familie im großbürgerlichen Esszimmer, als Videozuspielung auf einer Leinwand im Bühnenhintergrund zu sehen. Eine unnahbare Begegnung und eine von Beginn an gestörte; ruckelt die Projektion doch als wäre eine Internetverbindung instabil.
Stabil durch Verdrängen gibt sich hingegen die dösige, ständig wegdösende Sippschaft des Obersts (Thomas Lichtenstein): Möchte vom Krieg nichts mehr hören, einen Schlussstrich des Vergessens ziehen. Die Geschichte soll weitergehen, als wäre nichts gewesen. Für Beckmann aber lösen sich die Verbrechen nicht einfach durch Wohlstandsfresserei und -sauferei auf. Panisch vor Schuld spricht er von den elf Kameraden, die gestorben sind, weil er einen Befehl des Obersts befolgt hat. Nicht als selbstmitleidiger deutscher Verlierer ergreift er hier das Wort, sondern albträumt auch von den KZ-Opfern. Er spricht von der massakrierten Wahrheit und seinem schamvollen Unvermögen, jetzt einfach gut sein zu wollen.
Final umkreisen die Gespenster der Vergangenheit in Zeitlupe den Protagonisten, lassen sich einfach nicht vertreiben. Mit dem Jungen flieht von der Bühne die zum Optimismus bereite innere Stimme Beckmanns. Er selbst bleibt zurück, rat- und haltlos, schlittert ausweglos ans Ziel der Aufführung.
Kein Neuanfang, nirgends. Nur der kunstvoll ernst genommene Schrei eines Außenseiters ist zu vernehmen gewesen, dem eine entsolidarisierte, erinnerungstaubblinde Gemeinschaft, die sich vom Unglück anderer nicht stören lassen will, den Rest Hoffnung nimmt, im Überleben einen Sinn zu finden. Dieses zeitlos Anklagende erfahrbar zu machen, das Stück als Drama vereinzelt Verlorener zu zeigen: Zum Saisonauftakt in Oldenburg gelingt das beeindruckend gut.
Weitere Termine: 19. + 27. 09.; 11., 16. + 27. 10. (alle derzeit ausverkauft)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen