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Erdnussflips bis Ende des Jahres

Die mehrtägige Tanznacht-Biennale ist das große Nachsommertreffen der Berliner Performance-Szene. Diesmal: Garderoben zwischen Tanzstudioschick und Alien. Und große Dankbarkeit, dass vom Schönen etwas überlebt hat

„Aeon“ ist das neue Projekt des Künstlers und Choreografen Moritz Majce und der Künstlerin und Schriftstellerin Sandra Man Foto: D Hartwig

Von Astrid Kaminski

Eine Mauer aus Backsteinen wankt beim Betreten der Uferstudios. Sie wirft vertikale Wellen. Jeden Moment wird sie kippen und die dahinter liegende Person begraben. Erdbeben im Wedding! Beim längeren Betrachten und Näherkommen stellt sich heraus: Die Mauer wankt nicht aufgrund tektonischer Verschiebungen, sondern weil sie in Schwingung versetzt wurde. Statt mit Mörtel ist sie mit weichem Material verfugt und mittels Armierungen im Boden versenkt. „Gummimauer“ heißt das stabile Objekt von Rike Horb mit hochgradig instabiler Ausstrahlung.

Näherkommen ist darum zunächst nicht einfach, weil sich die Uferstudios mit dem riesigen geteerten Innenhof, der früher von Passanten, Jugendgangs, Taschendieb*innen und vor allem Tänzer*innen frequentiert wurde, für die Tanznacht 2020 in eine Gated Community verwandelt haben. Adrette Graszebrastreifen am Eingang verweisen auf das Abstandsgesetz. Nach der Namenskontrolle darf ein Drinnen-Draußen-Parcours betreten werden – jedoch keinesfalls von der falschen Richtung aus. Kein Eingang ist auch ein Ausgang. So werden unvorhergesehene Begegnungen vermieden.

Überall stehen Leute, die zählen und in Richtungen weisen, Maskenpflicht auch draußen. Ein Hochsicherheitsparcours. Die Verantwortungslast der Kulturszene ist spürbar. Als käme jeder kleinste coronaprotokollarische Fehler bei einem Ansteckungsfall einem Tötungsdelikt gleich. Was Fragen aufruft: Wie schaffen wir (wieder) eine Balance zwischen Selbstverantwortung und institutionellen Schutzmaßnahmen?

Planen, wieder planen, Pragmatismus, guter Humor und Engagement seien die Eigenschaften gewesen, die eine Corona-Edition der Tanznacht-Biennale ermöglicht hätten, so die Kuratoren Jacopo Lanteri und Julian Weber in ihren Eröffnungsworten. Die mehrtägige „Nacht“ ist traditionell das große Nachsommertreffen der Berliner Performance-Szene. Ein Taumeln von Umarmung zu Umarmung. In diesem Jahr fühlt es sich nach atmosphärischem Panzerglas an. Aber auch vom Humor ist viel in der dennoch positiv aufgeladenen Stimmung zu spüren. Zum Glück spielt das Wetter für die vielen Draußenperformances mit, und der ebenfalls glücklich wirkende „Impossible Forest“ von Jared Gradinger, der als inselartige Langzeitinstallation nichtmenschlicher Akteure bei der Tanznacht 2016 gepflanzt wurde, sieht aus wie ein hyperrealer grüner Planet, auf dem andere Gesetze gelten. Gewissenlose Natur mit anderem Wissen.

Eine Kuratorin, die nur wegen ihres europäischen Zweitpasses aus ihrem Land rauskam, ist so begeistert, als hätte sie gerade eine Mondlandung hinter sich. Unversehens streift mich ein Hauch lokalpatriotischen Stolzes auf diesen aus Gemeinschaftsgeist geschaffenen Ort Uferstudios mit all den irren Leuten, ihren verbeulten, energetischen Körpern und ihren Garderoben zwischen Tanzstudioschick und Alien. Und dieser Camou-Typ an der Backsteinmauer, der so genüsslich seine Billig-Flips-Tüte leert, als vergebe er gerade Michelin-Sterne! Und ja, genau, alle, fast alle, haben Soforthilfe II bekommen und können sich Flips noch bis Ende des Jahres leisten!

In diesem Jahr fühlt es sich nach atmosphärischem Panzerglas an

„Vertigo“ und „Displacement“ sind die Überthemen des Kuratorenduos – was an die „Schule des Taumelns“ für ungeborene Kinder des Essayisten Camille de Toledo erinnert, die dazu geschaffen werden soll, „den Unterricht in Übereinstimmung zu bringen mit der Realität, in der sie leben werden: einer hybriden Realität des,Dazwischen', der multiplen Identitäten“. So neu ist das Thema nicht, aber passend. Weil zusammen zu tanzen zurzeit kaum möglich ist, wurde einiges recycelt; thematisch verwandte Werke der bildenden Kunst wurden entortet und im Tanzstudio präsentiert. Gar nicht so leicht bei Schallschutzwänden, in die man keinen Nagel schlagen darf!

Für die transdisziplinäre Zukunft sind daher vor allem selbst stehende Objekte wie die in laszive Posen über Steinsockeln arrangierten Kinderjeans („Hard Candy“) von Miriam Kongstad überlebensfähig. Unheimlich, wie sie nicht explizit, sondern vor allem durch Körperspannung Verführungsdispositionen imitieren. Unheimlich komisch dagegen die Menschenaffen-Performance „Consul und Meshie“ von Antonia Baehr und Latifa Laâbissi, die im frei gelegten Inneren einer aufblasbaren Stretchlimousine durch die Imitation von Bräuchen aus sogenannten Hochkulturen den Firnis der Zivilisation rissig werden lassen.

Um andere als menschliche Lebenswelten geht es auch in Sergiu Matis’ „Extinction Room“, wofür der Innenhof in eine Enzyklopädie ausgestorbener Vogelarten verwandelt wird. Das Referieren wissenschaftlicher Beschreibungen führt hier aber nicht zur Imitation tierischer Eigenschaften, sondern vielmehr zu tänzerischen Resonanzen von Informationsverarbeitung. Martin Hansen tanzt wie ein Blatt im Wind, was bei den Probenbedingungen der letzten Monate eine Kunst an sich ist. Zwischen all dem Aussterben regt sich Dankbarkeit, dass vom Schönen etwas überlebt hat.

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