: Köstliche Schauer in Gaisterştat
Neue Schreckensliteratur aus Rumänien: Flavius Ardelean schickt einen Knochenmann auf die Reise und erzählt eine blutige Heiligenlegende
Flavius Ardelean: „Der Heilige mit der roten Schnur“. Aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme. homunculus Verlag, Erlangen 2020, 216 S., 22 Euro
Von Katharina Granzin
In einer kleinen Stadt, „Gaisterştat“ geheißen, wird ein Kind geboren. Ein Junge, der, wie sich schon im Kleinkindalter zeigt, etwas ganz Besonderes ist. Er spricht nicht, kommuniziert aber mit Insekten, zähmt wilde Tiere und, was der Gipfel ist, spinnt aus seinem Nabel eine rote Schnur, die er Sterbenden tröstend ums Handgelenk bindet. Der seltsame Junge, so wird allmählich klar, ist ein Heiliger.
Von ihm erzählt der Autor Flavius Ardelean, Jahrgang 1985. Ardelean stammt aus Braşov in Siebenbürgen und ist, wie man via Klappentext und Internet erfahren kann, Rockmusiker, Motorradfahrer, Übersetzer – und Mitglied der Horror Writers Association. „Horror“ ist allerdings ein Label, das vielleicht zu falschen Vorstellungen führen kann. Ardeleans eigene, nur auf Rumänisch gehaltene Website weist eine beachtliche Liste von Werken auf. Übersetzt wurde davon bisher offenbar wenig. Einzelne Erzählungen gibt es auf Englisch; auf Deutsch liegt außer diesem Roman bisher ein Kinderbuch vor.
Nun ist „Der Heilige mit der roten Schnur“ keinesfalls das, was man sich gemeinhin unter Horrorliteratur vorstellt. Nicht Stephen King ist Ardeleans Vorbild, seine literarischen Wurzeln sind vielmehr historisch. Als Inspirationsquellen nennt er H. P. Lovecraft, Alfred Kubin und Franz Kafka. Am ehesten ist „Der Heilige mit der roten Schnur“ ein fantastischer Schauerroman: voll dunkler Phantasmagorien, Untoter verschiedenster Art sowie blutiger Schleimorgien, dargeboten im gelassenen Märchenton einer Heiligenlegende. Berichtet wird das Ganze von einem Skelett.
Dieser Knochenmann namens Bartholomäus Knochenfaust erzählt die Lebensgeschichte des heiligen Taush einem Reisenden, der auf dem Weg in die Stadt Alrauna ist, die einst von Taush gegründet wurde. Für das Anhören der Geschichte muss der Reisende zahlen – und zwar Stück für Stück mit seinem eigenen Körper, was er kommentar- und klaglos hinnimmt. So ist es eben, wenn man in einen Albtraum gerät.
Das Leben des Taush selbst ist, wie das gewöhnlicher Menschen, voller Schicksalsschläge, die auch ein Heiliger nicht zu verhindern imstande ist. So stirbt sein Vater bei einem Unglück; und alles, was dem Jungen bleibt, ist, im Nachhinein rote Schnüre zu spinnen für die Toten. Als er zu einem jungen Mann heranwächst, wird seine Liebste von einer menschengroßen Ratte entführt und getötet: Ein Jahrmarkt, der in Gaisterştat gastiert – der „Jahrmarkt der üblen Dünste“ – hat das Böse in die Stadt gebracht. Taush und seine Gefährten verfolgen die todbringenden Ratten aus der Stadt hinaus, was den Abschied von der Heimat bedeutet.
Wie in einem Stationendrama geraten die „Gesellen“ – denn sie alle sind Lehrlinge eines weisen Mannes, der im Wald lebte – in eine üble Lage nach der anderen. Erst nach der Gründung der Stadt Alrauna gelingt es Taush, das Böse endgültig zu vertreiben. Bis dahin hat es aber schon so oft seine verzerrte Fratze hervorgestreckt, dass klar sein muss: Endgültigkeit gibt es hier nicht …
Ja, es ist der pure Horror, der in diesem Roman sein Unwesen treibt, aber es ist ein Hieronymus-Bosch-mäßiger, stilisierter, auch unterschwellig ironisierter Schrecken, der heutigen Lesenden wohl öfter köstliche Schauer des Ekels über den Rücken treiben mag, sie aber nicht am Einschlafen hindert. Dieser historisierende Horror wird durch die spinnenhaft morbiden Zeichnungen von Ecaterina Gabriela zusätzlich ästhetisiert. Die wunderschön zu lesende Übersetzung von Eva Ruth Wemme trägt dazu bei, das Buch zu einem echten Gesamtkunstwerk zu machen.
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