piwik no script img

Gezähmter Narr

Das Hamburger Ernst-Deutsch-Theater bringt Daniel Kehlmanns Roman „Tyll“ auf die Bühne: eine Feier der Theaterkunst, die versäumt, den Till-Eulenspiegel-Stoff als Parabel auf eine Welt zu erzählen, in der mythischer Glaube und Wissenschaft aufeinanderprallen

Schon sehr schick: Die Bühne verbreitet Sommerabend-Märchenstimmung Foto: Fotos (2): Oliver Fantitsch

Von Jens Fischer

Ein eisiger Wind bläst im Hamburger Ernst-Deutsch-Theater die Besucher an. Denn durch Ausbau etwa der Hälfte aller Stühle sind nun die Klimaanlagenöffnungen im Boden freigelegt. So lassen sich prima böse Aerosole vertreiben. Das passt aber auch als 4-D-Effekt ideal zur Aufführung von „Tyll“, spielt Daniel Kehlmanns elegante Vermengung von Fakten und Fiktionen doch in der Kleinen Eiszeit im 30-jährigen Krieg.

Warum ein fast 500 Seiten dialogarm wucherndes Geschichts­panorama auf eine Bühne in Norddeutschland bringen? Weil viele Szenen dort angesiedelt sind, das Schleswiger Schloss Gottorf spielt eine wichtige Rolle wie auch die Verhandlung um den Westfälischen Frieden in Osnabrück. Und Till Eulenspiegel spielt die Hauptrolle, eine der wohl bekanntesten literarischen Figuren Niedersachsens.

Im Braunschweiger Land startete der Possenreißer seine Karriere, wo er im Jahr 1300 auch geboren worden sein soll. Kehlmann transferierte die Figur aus dem 14. in das 17. Jahrhundert und bereicherte sie mit Anekdoten des dort bereits per Schelmenroman verewigten Simplicissimus – heraus kommt ein Geschichten verbindender Kommentator, der angesichts der grausigen Umstände von lebenslustiger Widerständigkeit beseelt ist. Ein Unruhestifter und brillanter Theaterprofi.

Die Inszenierung zeigt den jungen Tyll als pubertären Spaßmacher (Rune Jürgensen), der sich hinter der Maskerade der Dummheit zum anarchisch kecken Komik-Künstler und mefistofelischen Spötter entwickelt, jetzt gespielt von Sven Walser, der den Abend als einsam ungebeugter Menschenversteher beendet.

Als Saisoneröffnungsüberwältigungskonzept nutzt Regisseur Erik Schäffler das von Kehlmann reichlich gelobte und zitierte Mingle-Mangle des elisabethanischen Theaters, ein Mischmasch der Formen, der während des verheerenden Krieges auf dem Kontinent im Londoner Globe triumphierte.

In 40 Rollen ist das achtköpfige Ensemble zu erleben. Der Text bietet wie ein Shakespeare-Werk Geschichtsnachhilfe und Spaßmacherszenen, große Tragödie und unglückliche Liebesgeschichte, zeigt, dass Politik vor allem Machtpolitik ist, und setzt dabei auf Bilderzauber, Masken- und Puppenspiel, Musik, Tanz sowie ganz viel Theater auf dem Theater mit Tyll & Co., dem fahrenden Volk.

Die Bühne kündet als Kriegsbrachland von der Unbehaustheit der Menschen, ist aber nicht in apokalyptisches Dunkel, sondern in Sommerabendmärchenlicht getaucht und mit filmischen Zuspielungen auf der Rückwand ins zeichenhaft Symbolische erweitert. Das sieht alles schon sehr schick aus.

Eindrücklich auch, wie sich die Schauspieler zu Beginn aus dem Szenario erheben, es nach und nach beleben, chorisch als leidendes Volk zusammenfinden, aus dem sich Tyll und sein Vater als Individuen herausspielen. Der Müller Eulenspiegel ist wider das traurig harte Leben ins Philosophieren versponnen, was ihm Christenmenschen als Teufelswerk auslegen, ja, ihn als Anführer des Hexensabbats mobben und zum Tode verurteilen.

Das und die Folterszenen zuvor sind coronabedingt auf Distanz inszeniert. Da hämmert jemand auf einen Baumstumpf, Meter entfernt krümmt sich Vater Eulenspiegel. Später ist vom Krieg nur tolpatschiges Soldatenballett in aparten Nebelwolken zu sehen. Geht es um Brandschatzen, werden Textilien in die Luft geworfen. Von Millionen Morden marodierender Söldnertruppen, entvölkerten und verwüsteten Landstrichen, traumatisierten Überlebenden – von all dem Grauen dieser grotesk aus den Fugen geratenen Barock-Epoche ist kaum etwas zu spüren.

Alles wirkt ästhetisch gebändigt. Auch wenn Mann und Frau mal die Lippen aneinanderkuscheln sollen, ist lediglich eine Kusshandgeste zu sehen. Auf die Vaganten niedergehende Schläge und sexuelle Übergriffe kommen als putzige Verfolgungsjagden daher. Viel zu sanft, mit viel zu wenig aufklärerischer Präsenz und musikalischer Überzeugungskraft steht auch ein Bänkelsänger auf der Bühne und muss teilweise zu synthetisch wallender Play-back-Musik seine Verse anstimmen.

Alles wird auf Abstand gespielt und wirkt ästhetisch stark gebändigt

Dass Tyll angesichts der Inquisition und seiner Zukunft als Tagelöhner lieber weit, weit weg flüchten und vogelfrei leben will, ist allerdings überzeugend gespielt. Er flieht mit Kumpeline Nele, der Bäckerstochter von nebenan. Von Freiheit träumen sie und nutzen zumindest die Freiheit des Geistes, anderen den Spiegel vorzuhalten. Soloselbstständige Wanderbühnen-Entertainer sind es, später als Hofnarr und Zofe bei Friedrich V. von der Pfalz engagiert.

So zieht Historie in einem munter bunten Bilderbogen vorüber. Nur warum? Erwähnt wird auch, wie die Pest in der Kriegszeit wütet, das Stichwort aber nicht aufgegriffen und mit Corona-Assoziationen belegt. Das Hin und Her der Protestanten und Katholiken wurde als Religionskrieg behauptet, damit sich die Bevölkerung entsprechend ihres Glaubens begeistern kann fürs gegenseitige Schlachten, bei dem die feudal Mächtigen mit häufig wechselnden Verbündeten allerdings ohne göttlichen Auftrag allein um die Vorherrschaft in Europa stritten.

Wie Religion instrumentalisiert wird für Attentate, Morde, Kriege, Genozide ist ein leider nicht ausgestorbenes Phänomen, das in der Aufführung nirgendwo ausgeleuchtet wird. Ebenso die Tatsache, dass in „Tyll“ mythologischer Glaube auf wissenschaftliche Erkenntnis trifft – wie heute rechtspopulistische und coronaleugnende Verschwörungstheoretiker auf die Realität.

Die Regie nutzt das Stück einfach nicht als Folie, drängenden Problemen der heutigen Zeit nachzugehen oder sich wenigstens parabelnd mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Schäffler scheint vielmehr die Anweisungen aus Kehlmanns Rede bei den Salzburger Festspielen 2009 befolgen zu wollen, mit der gegen die Aktualisierungskunst des Regietheaters polemisiert wurde.

Die wird nun konsequent verweigert. Es gelingt aber, mit einer Feier der Theaterkunst mal kurz die Kriegsrealität der Bühnenfiguren wie auch die Ödnis des Corona-Alltags der Zuschauer verdrängen zu helfen. Das ist nicht wenig. Aber inhaltlich zu wenig für einen Saisonstart.

„Tyll“: bis 28. 9., Hamburg, Ernst-Deutsch-Theater; nächste Aufführungen: Fr, 4. 9., und Sa, 5. 9., 20 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen