Klassenkampf auf Eis

Am Bremer Theater inszeniert Nina Mattenklotz den Roman „Schäfchen im Trockenen“ von Anke Stelling als hadernden Monolog über die Sorgen der Mittelschicht von heute und die Frage, wo und wann das mit dem bürgerlichen Leben eigentlich schiefgelaufen ist

Unterkühlte Stimmung: Auf die karg eingerichtete Bühne rieselt Schnee Foto: Jörg Landsberg

Von Jan-Paul Koopmann

Der Mittelschicht fehlt es an Geld und an Klassenbewusstsein, wobei natürlich beides schlimmer sein könnte. Es reicht immerhin so weit, dass man sich gemessen am Rest der Welt nicht recht zu jammern traut – und ist doch zu wenig für Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben. Wahrscheinlich funktioniert Anke Stellings Erfolgsroman „Schäfchen im Trockenen“ auch deshalb auf der Bühne so gut, weil es sich beim Stadt­theater haargenau so verhält.

Zumindest findet der hundertminütige Monolog am Bremer Goetheplatz einen erstaunlich ausgefüllten Resonanzraum, obwohl es so richtig laut ja gar nicht wird. Karin Enzler spricht und spielt den Text, erzählt in Schlaglichtern, wie die heute vierfache Mutter Resi in den späten 1980ern groß geworden ist. Als Ärmste ihrer Clique zwar, aber doch voll dabei und akzeptiert. Und vom guten Willen ihrer Eltern ist die Rede, die ihr von der neuen klassenlosen Welt mehr versprochen haben, als dann draus wurde. „Geld macht nicht glücklich“, hatte Resi gelernt, was ihre gutsituierten Mitschüler:innen still und heimlich schon als Kinder besser wussten.

Noch mal: Es geht sehr vielen Menschen sehr viel schlechter. Immerhin entstammt Künstlerin Resi der Mittelschicht und hat ja auch ein paar Jahrzehnte im hippen Berliner Zentrum gelebt, was eben erst jetzt nicht mehr geht. „Schäfchen im Trockenen“ beackert ein Privilegiertenproblem – allerdings eines, das dann irgendwie doch für die Hoffnungen einer ganzen Generation spricht, weil es von der sogenannten Normalität erzählt.

Als ihre reichen Freund:innen ein Wohnprojekt gründen, sind Resi und Anhang mit eingeladen. Vielleicht war das ein Almosen, vielleicht weil Geld dort wirklich keine Rolle spielt, vielleicht aber auch, weil sie eine Freundin ist, die man sich gern leistet.

Hätte sie nur einen Funken Klassenbewusstsein, sagt Resi einmal im Stück, hätte sie selbstverständlich entschieden abgelehnt. Sollen die sich wen anders suchen, um ihren sozialen Anspruch unter Beweis zu stellen. Wär’s aber noch mehr als nur dieser Funke, sondern so ein richtig stabiler Klassenstandpunkt – dann wäre sie stattdessen genauso entschieden eingezogen. Dann würde sie nehmen, was sie kriegen kann, und das schlechte Gewissen den anderen überlassen.

Aber Resi hat beides nicht, laviert hin und her, macht alles zu ihrem persönlichen Problem, gibt ihrer Mutter die Schuld und nervt damit nun auch die eigene Tochter. Und ein bisschen auch das Publikum. Das allerdings nur ganz kurz, denn unter der Regie von Nina Mattenklotz setzen sich diese subjektiven Unzufriedenheiten bald hartnäckig an den Sollbruchstellen einer bürgerlichen Gesellschaft fest, die von Klassen nichts wissen will.

Auf der von Johann Pfau karg eingerichteten Bühne rieselt melancholisch unterkühlt der Schnee herab. Ein platt aufgestellter Kitschengel hält sich gequält an der Geige fest und glitzert an den Rändern wie eine von Omas Liebesmarken. Am Rand ragt drohend die Waschmaschine als sein profanes Gegenstück auf. Dazwischen sitzt nun unablässig rauchend Karin Enzler, probiert Kleider und Flügelchen an, die ihr zwar passen, aber doch kein behagliches Gesamtbild stiften.

Meist am Rand der Bühne bewegt sich die von den Jungen Akteur*innen bekannte Anne Leira van Poppel als Tochter Bea, die jedoch zum Zuhören verdammt bleibt. Sie spielt mal Beats vom Tablet ein, lächelt Resi hin und wieder wohlwollend zu und hängt dann doch wieder sichtbar Gedanken nach, von denen wir nichts erfahren – und die auch in der Selbstbeschau ihrer Mutter keinen Platz finden.

Von der Handlung ist nichts zu sehen, sie wird erzählt. Nicht objektiv und schon gar nicht fair rechnet Resi mit der Gesellschaft ab und vor allem mit diesen reichen Freund:innen. Als Erzählerin hat sie die Deutungshoheit und sagt das auch selbst so. Das ist die Macht, die ihr und heute auch dem Theater bleibt, und der sie die ganze Misere überhaupt erst verdankt. Resi ist nämlich nicht eingezogen in dieses Wohnprojekt, sondern hat ein Buch darüber geschrieben, hat Privatsphären verletzt und sich zum Opfer stilisiert, wie man ihr vorwirft. Darum der Bruch, darum ein geplatzter Mietvertrag und darum auch diese Rückschau aufs eigene Leben.

Roman und Inszenierung teilen sich die große Leistung, von der eigenen Privilegiertheit zu wissen und sich trotzdem mit nichts zufriedenzugeben

Dass es bei der Momentaufnahme bleibt und weiter nichts passiert, wäre eine dröge Angelegenheit, würde Karin Enzler es nicht mit Bravour verstehen, die Zweifel des Textes ins Spiel zu überführen. Vorsätzlich wird das seicht überbetont, worin vielleicht eine Lüge schlummert, und sich auf hilflose Grimassenschneiderei verlegt, wo Worte nicht mehr ineinandergreifen. Aber stabil ist sie nicht, auch nicht konsequent – reißt nur immer wieder Wunden auf, wenn sie Haltungen ausprobiert und daran scheitert.

Enzler führt so die Selbstironie des Romans vor und wahrt strikt auch dessen Grenze: Lächerlich ist sie nämlich nie, die Resi, nur bis über beide Ohren verstrickt in ein „generationenübergreifendes Überforderungsprojekt“, wie sie einmal sagt. Und das geht eben doch viel tiefer als die großen urbanen Themen an der Oberfläche: Wohnungsmarkt und Elternschaft und erodierende Freundeskreise.

Zwischendurch erinnert sich Resi, wie ihre Jugendclique damals übers Wochenende in die Berghütte von irgendjemandes reichen Vaters wollte und wie sie da stand, als Einzige keine Skier in der Garage hatte und damit auch nicht hätte umgehen können. Da tut sie weh, die Blasiertheit der Freunde, die ihr noch schmackhaft machen, über Tage ein bisschen zu lesen und dann am Abend mit den anderen zu feiern. Alle zusammen.

Es ist bei aller Beklemmung immer wieder auch zum Lachen, sich da wiederzuerkennen – und wohl eher nicht so, wenn man statt solcher Geschichten die jährlichen Ski-Urlaube mit der Familie am Herzen trägt. Roman und Inszenierung teilen sich die große Leistung, von der eigenen Privilegiertheit zu wissen und sich trotzdem mit nichts zufriedenzugeben. Und das geht dann auch doch wieder alle an: Spott gegen die Reichen und den Neid nicht als Widersprüche zu entlarven, sondern als genau die Mischung zu begreifen, auf der die quälende Mittelmäßigkeit dieser Gesellschaft eben ruht.

„Schäfchen im Trockenen“: Bremen, Theater am Goetheplatz, nächste Aufführungen: Fr, 4. 9., und Sa, 5. 9., 20 Uhr