Favoritin ohne Druck

Die Berlinerin Janine Pietsch geht bei der Schwimm-WM in Montreal als amtierende Weltrekordlerin über 50 Meter Rücken an den Start. Von den Erwartungen erdrücken aber lässt sie sich nicht

AUS MONTREAL JÜRGEN ROOS

Janine Pietsch ist groß, blond und kommt aus Berlin. Was eigentlich schon genügend Gemeinsamkeiten sind, die sie mit Superstar Franziska van Almsick teilt. Ein Blick in die Rekordlisten des Weltschwimm-Verbandes Fina offenbart eine weitere: Janine Pietsch ist zurzeit neben der Ex-Schwimm-Diva die einzige Deutsche, die einen Weltrekord hält. Bei den deutschen Meisterschaften Ende Mai in Berlin legte Pietsch die 50 Meter Rücken in 28,19 Sekunden zurück. Franziska van Almsick hatte drei Jahre zuvor die Weltbestzeit über 200 Meter Freistil auf 1:56,64 Minuten geschraubt – im gleichen Becken übrigens.

Der Unterschied zwischen den beiden Blondinen, die bei großen Titelkämpfen zuletzt immer das Hotelzimmer teilten: Franziska van Almsick ist im vergangenen Jahr in Rente gegangen und kommentiert die Schwimm-WM in Montreal für die ARD. Janine Pietsch schwimmt noch, startet heute in den Vorläufen über ihre Spezialstrecke und bleibt trotz ihres Weltrekords locker. „Eine Medaille wäre schön, aber ich möchte mir nicht zu viel Druck machen“, sagt sie. Druck ist bekanntlich relativ, weshalb die 23-Jährige nach ihrem Halbfinal-Aus über 100 Meter Rücken eine gefragte Gesprächspartnerin war. „Ich habe im Vorfeld der WM nicht viel für die 100 Meter gemacht, aber die beiden Rennen waren genau richtig, um das Wettkampfbecken zu testen“, sagte sie. Kontrolliertes Einschwimmen sozusagen für ein Rennen, das das Größte ihres Lebens werden könnte. Denn Weltrekorde sind vergänglich, WM-Titel aber bleiben für die Ewigkeit.

Immerhin gab Janine Pietsch zu, dass sie bei ihren ersten beiden Starts in Montreal bereits die 50 Meter „im Kopf“ hatte. Ob sie über die Sprintstrecke allerdings erneut für eine Bestzeit gut ist, darüber verweigerte sie die Auskunft. „Ich habe seit den deutschen Meisterschaften keine einzige Bahn mehr mit maximaler Geschwindigkeit geschwommen“, sagte sie. Hört sich nach einer reichlich eigenartigen Vorbereitung an. Die Erklärung ist eine einfache: „Wir haben versucht, alles genauso wie vor den Deutschen durchzuziehen.“

Vor dem Weltrekord in Berlin hatten die Rückenschwimmerin nacheinander die Bandscheiben, eine Bizepssehne und schließlich eine Nebenhöhlenentzündung gequält. An intensives Wassertraining war nicht zu denken, weshalb Janine Pietsch ihre Übungseinheiten vor allem im Kraftraum absolvierte – mindestens zweieinhalb Stunden pro Tag. Die aus der Not geborene Strategie kam dem so genannten „Tapern“ nahe, das Trainerfüchse ihren Schützlingen schon seit langer Zeit vor großen Rennen verordnen. Kaum zu glauben eigentlich, dass Janine Pietsch und ihr Trainervater Steffen es zuvor noch nie damit probiert hatten.

„Spannend“ sei das Gefühl, nicht zu wissen, was geht, sagt Janine Pietsch, die auf diese Art wohl auch versucht, ein wenig die Favoritenrolle klein zu reden. Selbst im abschließenden Trainingslager in Ottawa wurde noch nicht voll geschwommen. „Mit ihrer Zeit über 100 Meter hat Janine ihr hohes Niveau bestätigt“, sagte der DSV-Sportdirektor Ralf Beckmann am Montag, „und so weit ich das beurteilen kann, geht sie hier trotz des Weltrekords wirklich ganz locker ins Rennen.“ Eine Störgröße hat die Schwimmerin in Kanada allerdings ausgemacht. „Mein Vater fehlt mir hier und deshalb ein wenig die Sicherheit.“

Dass selbst im WM-Becken von Montreal Weltrekorde möglich sind, obwohl die Titelkämpfe unter freiem Himmel ausgetragen werden, hat die Schwimmwelt in den ersten beiden WM-Tagen in Erstaunen versetzt. Zunächst schwamm der Südafrikaner Roland Schoeman im Halbfinale über 50 Meter Schmetterling 23,01 Sekunden und blieb tags darauf in seinem Goldrennen in 22,96 als erster Mensch unter 23 Sekunden. Als im Halbfinale über 100 Meter Brust die US-Amerikanerin Jessica Hardy den Weltrekord auf 1:06,20 Minuten verbessert hatte, wunderte sich auch der DSV-Sportdirektor Ralf Beckmann. „Das ist wieder eine neue Erfahrung, denn im Freiluftbecken von Athen waren keine Weltrekorde möglich“, sagte er.

Neben Janine Pietsch und Franziska van Almsick ist Thomas Rupprath (Hannover) der einzige Deutsche, der noch einen Weltrekord hält. Wie Janine Pietsch über 50 m Rücken, die der 28-Jährige bei seinem Weltmeistertitel 2003 in Barcelona in 24,80 Sekunden hinter sich brachte. Ab Samstag wird Rupprath diesen Titel verteidigen. Er hatte nach seinem Halbfinal-Aus über 50 m Schmetterling geklagt, dass er im Becken von Montreal „das Wasser nicht fühlen“ könne. Dass das kanadische Wasser zu weich sei, hält Beckmann freilich lächelnd für ein „ziemlich weiches Argument“.