berliner szenen
: Evripides hat sie alle gesehen

Mein neuer Freund heißt Evripides, wie der Tragödiendichter oder der ehemalige griechische Innenminister, aber für die politische Kaste seiner Heimat hat Evripides nichts übrig, der Dramatiker ist ihm lieber. Wir sitzen bei griechischen Temperaturen auf dem O-Platz und Evripides zieht ab über deutsche Autonome, arabische Migranten, amerikanische Touristen, die ihm den Schlaf rauben, türkische Mädchen, die Kürbiskerne überallhin spucken, und Coronaleugner mit Maske auf halbmast.

Evripides hat sie alle gesehen in der Oranienstraße, wo er seit 50 Jahren lebt. Ende der 60er kam er mit dem Hellas-Express nach Stuttgart, von dessen blitzsauberen Straßen er noch manchmal träumt, ging nach Berlin und blieb. Nicht, weil es so schön war unter durchgeknallten Kriegsversehrten und ungewaschenen Studenten, die in Kellerdruckereien Flugblätter druckten, sondern weil es billig war und er Arbeit hatte. 70 Mark für 2 Zimmer! Er sparte und baute ein Haus auf einem Acker bei Saloniki, doch als es fertig war, konnten weder er und seine Frau noch seine Kinder sich ein Leben dort noch vorstellen.

Evripides schätzt deutsche Ordnung, und er hasst es, wenn der Staat Schwäche zeigt, wie im Umgang mit linken und rechten Unruhestiftern, Kriminellen, Coronaleugnern. Ich erinnere an die fließende Grenze zum totalen Staat, doch er winkt ab. Ob er erwogen hat, zurückzugehen oder wenigstens nach Steglitz überzusiedeln. Nie, sagt Evripides. Er sei alt, sein Zuhause sei hier. Abends, wenn es kühler wird, komme er gern auf den Platz. In seinem Dorf habe es Fisch gegeben, wenn der Fischer einen guten Fang gemacht, Lamm, wenn der Nachbar geschlachtet hatte, Gemüse, wenn der Garten was abwarf. Für alles andere musste man stundenlang fahren. Hier gehe er einfach rüber zum Lidl, sagt er und grinst. Sascha Josuweit