Hamburger Szene von Petra Schellen
: Mit dem Seebär zu Edeka

Alle Köpfe fliegen herum, Verkäuferinnen kommen angerannt, und ich denke: Werde ich jetzt verhaftet?

Konzentration ist eine feine Sache. Besonders wenn man das Richtige fokussiert, die „gute Sache“ zum Beispiel. Dann heißt es frisch vorangeschritten, konsequent das Ziel im Blick – und natürlich die üblichen Ab- und Anstandsregeln.

Allerdings, das kann bizarre Blüten treiben, und meist fängt’s ganz harmlos an: Durch die Lange Reihe in St. Georg radelnd, sehe ich neulich einen Herrn mit Blindenstock auf die Straße abdriften. „So geht das nicht“, denke ich, „nachher wird er noch angefahren.“

Abgestiegen, angesprochen. „Zum Edeka will ich“, sagt er, „das muss ganz in der Nähe sein“. Das stimmt, aber da, wo er hinläuft, ist der Edeka nicht. „Sind Sie nicht von hier?“ frage ich. „Doch“, sagt er vergnügt, „ich bin alter Hamburger und früher als Maschinist auf den großen Pötten um die Welt gefahren“.

Ich frage nicht, warum ihn weder Mensch noch Hund begleitet. Warum er nicht, wie andere Blinde, diesen für ihn so wichtigen Weg geübt hat, um ihn allein zu finden.

Stattdessen biete ich an mitzugehen, setze schnell meine Maske auf, fasse seinen Stock, und wir zuckeln los. Am geräumigen Edeka-Eingang kommt er immer noch nicht klar, also bringe ich ihn noch bis zum Obst-Gemüse-Bereich.

Als ich umkehren will, passieren zwei Dinge: Erstens kommt der Mann immer noch nicht klar und ruft laut nach jemandem, der ihm helfen soll. Zweitens geht der Alarm los, zwei Schranken schließen sich vor und hinter mir, sperren mich ein. Gleichzeitig fordert – unlogisch – eine Lautsprecherstimme, ich solle den Laden verlassen. (Wie denn, bei geschlossenen Schranken? Und falls ich ein Dieb wäre: Warum denn?) Alle Köpfe fliegen herum, Verkäuferinnen kommen gerannt, und ich denke kurz: Werde ich jetzt verhaftet?

Dann sehe ich an mir herunter und begreife: Das Rad! Ich habe aus Versehen das Fahrrad mit ins Geschäft genommen. Das ging ganz automatisch: Stock und Mann an der einen, Rad an der anderen Hand, und immer schnurstracks aufs Ziel zu, siehe oben. Ein Reflex war das, ganz ohne jeden Gedanken. Denn das Fahrrad unabgeschlossen draußen zu lassen, ist mir quasi genetisch unmöglich. Und kurz anzuhalten, um es abzuschließen, kam mir nicht in den Sinn; dafür war die Situation zu dynamisch.

Die Chef-Verkäuferin versteht das zum Glück. Und als ich sage „De Mann braucht immer noch Hilfe“, lächelt sie wissend. Anscheinend kennt sie ihn. „Er weiß doch, dass er vorher anrufen soll, damit wir ihm helfen“, sagt sie.

Aha, denke ich, er macht das wohl immer so, und zwar mit Bedacht. Denn Selbstständigkeit macht auch einsam. Wenn er aber Menschen findet, die ihn ein Stück begleiten, kann er unterwegs ein, zwei Seebär-Geschichten von früher erzählen. Und dann ist er glücklich.