Mit dem Trecker zum Mond

Mit dem Traktor auf die Landstraße, mit gehörntem Helm durchs Internet: Das Schleswig-Holstein Musikfestival sucht coronabedingt neue Wege zum traditionellen und zum hippen Publikum

Von Robert Matthies

Auf der einen Seite ein Kauz in Wikingerkluft mit wallendem Bart, weitem Umhang, Speer und gehörntem Helm; auf der anderen ein Trecker, „ländlich-nostalgisch geschmückt“: Das sind die beiden Pole, zwischen denen das coronageplagte Schleswig-Holstein Musikfestival am heutigen Samstag seinen Kosmos aufspannt.

Die Landmaschine kommt betulich tuckernd auf der Landstraße zu den Menschen, um auf Marktplätzen und vor Kirchen, Pflegeheimen, Seniorenheimen und Krankenhäusern „Klassik­häppchen“, Volksmusik oder Jazz jene Bühne zu bieten, die sonst traditionell bei den nun virusverunmöglichten „Musikfesten auf dem Lande“ auf Gutshöfen und in Scheunen stand. Heute steht das Gypsy-Jazz-Duo Giovanni Weiss und Sandro Roy auf dem Hänger.

Der schräge Multiinstrumentalist Moondog stand wiederum schon im vergangenen Jahr Pate für das seit ein paar Jahren betonte Unbetuliche und Hippe im Musikfestival-Portfolio. Schließlich ist dieses obskure Mutlitalent, das zwischen den 1940ern und 1970ern an einer Straßenecke in Manhattan musizierte und dichtete, nicht nur bekannt als „Viking of the 6th Avenue“ – mit dem nordischen Seefahrer identifiziert man sich im nördlichsten Bundesland ja immer wieder gern.

Louis Thomas Hardin, so der bürgerliche Name des Mannes mit der so unbürgerlichen Lebensweise, bietet sich auch sonst an, will man dem Land und der Nostalgie etwas Urbanes – und dann natürlich auch ein bisschen Exzentrisches – gegenüberstellen: Das „seltsame Genie, so Leonard Bernstein über den Sohn eines Wanderpredigers, hantierte als 16-Jähriger mit Dynamit, verlor dabei sein Auge und entdeckte klassische Musik.

Moondog nannte er sich nach seinem den Mond anheulenden Blindenhund, er lernte Violine, Viola, Piano, Orgel, Harmonielehre und Chorgesang – und las über Musik, was immer er in Blindenschrift finden konnte. Er komponierte meist ohne Instrument, lernte Musiker und Komponisten wie Strawinsky und eben Bernstein kennen, las mit dem Beat-Poeten Allen Ginsberg und hätte fast mal eine Platte mit Jazzer Charlie Parker gemacht. Und plötzlich war er weg von seiner Straßenecke und gleich ganz aus Nordamerika: Als „Europäer im Exil“ hatte Moondog sich lange schon verstanden, weil er so einen Draht zur Alten Musik von dort hatte.

Im Frühjahr 1974 wohnte der in den USA schon Totgeglaubte mehrere Wochen lang in Hamburger WGs, trommelte später in der Fußgängerzone von Recklinghausen. Dort traf er auf die Studentin Illona Sommer, die ihn managte und seine Stücke auf Platte presste; die Grundlage für eine begeisterte Wiederentdeckung in den 1990ern. 1997 dann starb Hardin in Münster. Sesshaft war er dort geworden, im Haus der Sommers, die ihn doch bloß mal zu Weihnachten einladen wollten. Das Wikingerkostüm hatte ihm seine Managerin da längst ausgeredet.

Genug Assoziationen also, eine Konzertreihe mit „moondog.city“ zu betiteln, die dessen „progressiven Geist“ erwecken soll – im Vorjahr ganz konventionell in Hamburger Clubs, dieses Mal mittels dreier Livestreams von aufgezeichneten Clubkonzerten, die sich nun gratis ansehen lassen.

Das Ensemble Podium Esslingen spielt ab 17 Uhr das Stück „Tessellatum“ des Iren Donnacha Dennehy, in dem sich Drones und overgedubbte Geigen und eine Viola da Gamba überlagern, „Ambient für kurze Aufmerksamkeitsspannen“ erkannte der Rolling Stone. Zwei Stunden später spielt das Ensemble Minisym Moondog-Stücke, und den Abschluss macht um 21 Uhr das Duo Joasihno, für dessen „Electronic Anti-Pop“ Moondog eine zentrale Inspiration war. Versprochen wird hier ein Schattenballett, begleitet von Livemusik – irgendwas, so viel verrät der kurze Trailer, mit Hühnern und Staubsaugrobotern.

„moondog.city“: Sa, 1. 8., Streams ab 17 Uhr unter www.shfm.de„Musikfest-Trecker“ mit Giovanni Weiss & Sandro Roy: Sa, 1. 8., 10 Uhr, Ratzeburg, Am Markt; 12 Uhr, Nusse, Kirchenvorplatz; 15 Uhr, Ahrensburg, Große Straße