Der Herbst des Patriarchen

Bremens Bürgermeister Henning Scherf (SPD) hat den Zeitpunkt für den rechtzeitigen Rückzug aus der Politik verpasst. Die Krisen häufen sich, weder ein Befreiungsschlag noch ein potenzieller Nachfolger sind in Sicht – Parallelen zu anderen tragischen Abgängen drängen sich auf

Scherf hat seinen Zenit überschritten, in Bremen hat er politisch alles erreicht. Er will auf die Bundesbühne. Doch auch dort reiht sich inzwischen Misserfolg an Misserfolg

von Kay Müller

Es war einmal ein Bremer Bürgermeister, der war groß, beliebt und viele Menschen wählten ihn. Es gab nicht viele, die in der Ära Schröder auf Landesebene Wahlen für die SPD gewonnen haben. Henning Scherf war einer, der das geschafft hat. Das ist zwei Jahre her und seit dem ist Scherfs Bilanz alles andere als erfolgreich: Das kleinste Bundesland leidet unter Reformstau, über elf Milliarden Euro Schulden bestimmen fast jede politische Diskussion. Der von der SPD eingesetzte parteilose Finanzsenator Ulrich Nußbaum muss immer wieder erklären, wo weiter gespart werden kann, damit er wenigstens einen verfassungskonformen Haushalt hinbekommt. Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD) muss vermutlich Kindergärten zusammenlegen, Bildungssenator Willi Lemke (SPD) hat schon erste Schulschließungen bekannt gegeben. Dazu muss er die erneut schlechten Ergebnisse der PISA-Studie verdauen.

Nußbaum, Röpke, Lemke? Wo ist eigentlich der Bürgermeister? Führt er noch das Land? Wo ist Henning Scherf?

Gerade ist er aus Japan wiedergekommen. Dienstreise – zur Weltmeisterschaft der Roboter-Fußballer. Davor ein paar Scheckübergaben und schnell noch mal zur Bilanz der örtlichen Beck’s Brauerei, bei der Scherf im Aufsichtsrat sitzt. Zwischendurch ein paar Einweihungstermine, bei denen Scherf Kinder hochheben und Erwachsene umarmen kann. Das macht ihn beliebt beim Volk, in Partei und Fraktion runzeln die Genossen nur noch die Stirn. Im harten politischen Alltagsgeschäft findet sich kein (S)Che(r)f mehr – und wenn, hagelt es Kritik: Auf der Personalversammlung des öffentlichen Dienstes muss der Bürgermeister sich wegen der Einsparungen den Kopf waschen lassen. Ein Personalrat fordert, nicht wie im Mittelalter den Überbringer der schlechten Nachrichten zu köpfen, sondern auch den Urheber. Scherf reagiert ungehalten auf die Morddrohung. Schon am nächsten Tag kursiert in Verwaltung und Politik ein Video-Clip von der Veranstaltung, der den Bürgermeister unfreiwillig für ein Anti-Durchfallmittel werben lässt. Slogan: Wenn’s mal wieder verSCHERFT in die Hose geht.

Nur ein paar Tage später gerät Scherf wieder unter Feuer. Gegen den Chef der Senatskanzlei, Reinhard Hoffmann (SPD), ermittelt die Staatsanwaltschaft, weil der 68-Jährige eigenmächtig eine halbe Million Euro aus dem Verkauf von staatlichen Anteilen des Stromkonzerns an die Günter-Grass-Stiftung weitergeleitet hat. Die Summe hätte in den Bremer Haushalt eingestellt werden sollen, so der Vorwurf. Scherf stellt sich vor seinen „engsten und wichtigsten Mitarbeiter“. Vorwürfe, Hoffmann habe bewusst belastende Schriftstücke nicht an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet, weist das Rathaus zurück. Die Grünen fordern Scherfs Rücktritt. Sie befürchten, dass der Regierungschef seine Kompetenzen als Justizsenator nutzt, um Hoffmann vor gerichtlichen Folgen zu schützen.

Dazu bekommt Scherf Gegenwind aus den eigenen Reihen. Die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen warnt vor einer „problemträchtigen Konzentration der Ämter“. In der zweiten Reihe wird schon seit geraumer Zeit über Scherf und Hoffmann gemotzt. „Die müssen beide weg – einfach weg“, sagt ein langgedienter Bremer Sozialdemokrat, der fürchtet, die Partei könnte weiter durch den „Grüßonkel Henning Scherf“ beschädigt werden. Damit steht der prominente Genosse nicht allein. In der Bevölkerung ist Scherf jedoch weiter so beliebt, dass sich keiner der jüngeren Genossen traut, gegen den Patriarchen aufzubegehren, der Bremen seit zehn Jahren regiert. Nach Kurt Beck in Rheinland-Pfalz und Edmund Stoiber in Bayern ist Scherf der dienstälteste deutsche Ministerpräsident. Davor war er 17 Jahre lang Senator in Bremen. Im September wird Scherf 67, und wollte eigentlich aufhören mit der Politik. Vor rund einem Jahr verkündete er jedoch in einem Interview, auch nach der Bürgerschaftswahl 2007 im Amt bleiben zu wollen. Die Partei stöhnte, aber sie muckte nicht auf. Dabei ist allen Beobachtern klar, dass Scherf den Zeitpunkt für einen würdevollen Abgang verpasst hat.

Was für ein Kontrast zu dem Scherf, der vor zwei Jahren noch durch die Lande tingelte. „Der weiche Riese“ titelte der Tagesspiegel in einem Hurra-Porträt, in der konservativen Welt durfte der damalige Generalsekretär Olaf Scholz einen Artikel mit den Worten „Politiker sollten so sein wie Henning Scherf“ überschreiben. Bremen wirkte so erfolgreich wie sein aufstrebender Fußballverein, von dessen Siegen auch Scherf profitierte.

Doch dann beginnt der Niedergang. Scherf hat seinen Zenit überschritten, in Bremen hat er politisch alles erreicht. Er will auf die Bundesbühne. Doch auch dort reiht sich inzwischen Misserfolg an Misserfolg. Als Präsident der Bundesanstalt für Arbeit ist er im Gespräch, dann will er plötzlich Bundespräsident werden. Nur außerhalb von Bremen interessiert das keinen. Und auch den Hansestädtern wird zu Beginn dieses Jahres klar, wie wichtig Scherf in Berlin genommen wird. Fest zugesagte finanzielle Hilfen des Bundes zum Ausgleich für Bremens Zustimmung zur Steuerreform fünf Jahre zuvor sind fest eingeplant. Doch der Bundeskanzler denkt nicht daran, seinem Parteifreund die nötigen Millionen zu überweisen. Immer mehr Bremer verlieren das Vertrauen in die Kompetenz ihres Bürgermeisters, der seitdem immer häufiger abtaucht.

Nichts gelernt hat er von anderen Ministerpräsidenten. Dem in seinem Bundesland ähnlich beliebten Manfred Stolpe gelang es in Brandenburg, nach fast zwölf Jahren das Zepter an seinen „Thronfolger“ Matthias Platzeck (beide SPD) zu übergeben. Und auch Bernhard Vogel ließ seinem Nachfolger Dieter Althaus (beide CDU) in Thüringen den Raum zur Entfaltung.

Doch die beiden bilden eher die Ausnahme. Häufiger ist der Politikertyp, der nicht loslassen kann – wie Scherf. Kurt Biedenkopf (CDU) in Sachsen musste genauso aus dem Amt gedrängt werden wie Erwin Teufel (CDU) in Baden-Württemberg. Max Streibl (CSU) wurde von der eigenen Fraktion gedemütigt, als er 1993 in Bayern versuchte, weiter im Amt zu bleiben. Die Liste ließe sich fortführen. Auch Helmut Kohl (CDU) nutzte 1969 die Gunst der Stunde und beerbte seinen über 20 Jahre lang amtierenden Vorgänger Peter Altmeier (CDU). 1998 sollte Kohl selbst als Bundeskanzler den Zeitpunkt für den Rückzug verschlafen. Die Politiker erkannten nicht, dass ihre eigene Partei sich gegen sie wendete.

Und noch etwas ist den Regierungschefs im Herbst ihres politischen Wirkens gemein: Sie konzentrieren sich auf ihre engsten Mitarbeiter. Sie umgeben sich mit Leuten, die ihnen nicht widersprechen. Sie suchen den Kontakt zum Volk, um sich den Zuspruch zu holen, den sie in der politischen Auseinandersetzung nicht mehr bekommen.

Insider berichten, dass Henning Scherf auf Sitzungen seines internen Beraterkreises gern ausgiebig über die Form der Spieler des SV Werder Bremen auslässt, während sein Kanzleichef Reinhard Hoffmann als „geschäftsführender Ministerpräsident“ agiere. Hoffmann gilt als Arbeitstier und Aktenfresser. „Den müssen sie mal mit den Füßen voran aus dem Rathaus tragen“, sagt einer, der ihn gut kennt.

Die engsten Mitarbeiter amtsmüder Ministerpräsidenten kumulieren häufig die Macht in ihren Amtsstuben, um die Lücke zu schließen, die ihre Chefs hinterlassen. Sie kennen ihre Vorgesetzten gut, haben ihm häufig einen Gutteil ihrer eigenen Karriere zu verdanken. Reinhard Hoffmann arbeitet seit fast 30 Jahren für Scherf. Für eine funktionierende Verwaltung reicht das noch, für mehr auch nicht.

Noch traut sich in der SPD keiner, den Brutus zu geben. Alle warten darauf, dass Scherf von selbst geht. Einen Nachfolger gibt es in der Bremer SPD nicht. Weder Fraktionschef Jens Böhrnsen noch Parteichef Carsten Sieling haben sich bisher ausreichend exponiert, Bildungssenator Willi Lemke gilt zwar als politisch erfahren, allerdings fehlt ihm die Anbindung an die Partei. Selbst wenn Henning Scherf zur Bürgerschaftswahl noch einmal antritt und gewinnt, sind seine Stunden gezählt. Er wird wohl nicht das tragische politische Ende mit Heide Simonis (SPD) teilen, die in Schleswig-Holstein von eigenen Genossen nicht mehr gewählt wurde. Doch Höhepunkte wird es in der Karriere von Henning Scherf nicht mehr geben.