berliner szenen
: Melancholie und Martinshorn

Nirgends in Berlin kann man sich so erhaben melancholisch fühlen wie auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Man geht über knirschenden Sand. Der Sommerwind weht angenehm. Die Stadt lärmt pietätsfrei weiter. Martinshörner jaulen, die Charité ist ja um die Ecke.

Auf diesem Friedhof liegen ein paar Leute, von dem lernen kann, wie man literarisch stirbt. Sterben ist narrativ gesehen eine günstige Sache. Man muss das Drama nicht erfinden. Fantasie ist nicht nötig, nur Beobachtungsgabe. „Was du nicht wissen wolltest / Zeit ist Frist / Die Bäume auf der Heimfahrt schamlos grün“, schrieb Heiner Müller, als er erfuhr, was ihm passieren wird. Sein Grab ziert eine schlichte Stele. Um die Ecke liegt ein von Regenwasser aufgequollenes Exemplar des Romans „Tschick“. Darunter der Autor Wolfgang Herrndorf. Er hat in „Arbeit und Struktur“ seinen Untergang mit einem Hirntumor protokolliert. „Das Gemüse, das einmal meinen Namen trug“, schrieb Herrndorf so mitleidlos über sich, dass man gleich an seiner statt ein paar Tränen vergießen wollte.

Ein Ehepaar, er dick, sie klein, streift über den Friedhof. Manchmal lesen sie laut vor, was auf den Grabsteinen steht. Bei Herrndorf knapp: „1965 bis 2013“. „48, dit is doch nüscht“, sagt er zur Gattin, die unbeteiligt nickt. Der Berliner hat wenig Talent zum Feierlichen.

Abends hört man im Hof des Brechthauses nebenan Literaturwissenschaftlern und Psychoanalytikern zu, die im Rahmen der Herrndorf-Woche Texte aus „Arbeit und Struktur“ deuten. Ein Charité-Arzt entdeckt humorvolle Hoffnungslosigkeit, die kluge Elke Schmitter ein bildungsbürgerliches Ich, das sich diszipliniert gegen die eigene Auflösung stemmt. Ein gemeinsames Nachdenken über Wolfgang H. Ernst, ruhig, konzentriert. Langsam dämmert es. Ein Baum raschelt zart. Stefan Reinecke