berliner szenen
: Der Brief ist nicht zugeklebt

In einer Box auf dem Fensterbrett stehen Bleistifte aufrecht im Reisbett. Schön und schlicht sehen sie aus mit dem Aufdruck „Gifts & Rituals“ und einem chinesischen Schriftzeichen. Nach Gebrauch soll man die Stifte in eine Schachtel legen. Um Schenken und Beschenktwerden geht es in der Ausstellung von Lee Mingwei im Gropius-Bau.

Drei offene Kabinen sind im Raum verteilt. In einer sitzt ein Mann auf dem Boden und rauft sich die Haare. Bevor ich die zweite betrete, muss ich die Schuhe ausziehen. Auf einem Pult liegt Briefpapier bereit, damit ich jemandem schreibe, was ich eigentlich schon lange aussprechen will. Wenn ich meinen Brief offen an die Kabinenwand stecke, dürfen ihn alle lesen, steht auf einer Gebrauchsanleitung. Was mir zu persönlich erscheint, soll ich in einen Umschlag tun und mit einem Namen versehen. Oder zusätzlich mit einer Adresse beschriften – das Team vom Gropius-Bau wird ihn dann später frankieren und verschicken.

Meine Fantasie schlägt Purzelbäume, ich stehe wie angewurzelt vor meiner Aufgabe. Zum Glück wartet niemand hinter mir, sonst wäre ich schon geflüchtet. Das ist ja die reinste Selbsterfahrung hier. Mein Blick fällt auf einen Umschlag, auf dem nur „Vater“ steht. Er ist nicht zugeklebt. Die Versuchung ist groß, ich würde zu gern reingucken, das würde doch keiner merken. Ich muss mich schwer zusammenreißen.

Wer beschenkt hier eigentlich wen? Ich breche ab, zu viel Gefühl für heute, aber den schönen Bleistift, den stecke ich ein. Während ich meine Schuhe wieder anziehe, sehe ich eine Museumswärterin auf mich zukommen. Schon ihr energischer Schritt aktiviert ein schlechtes Gewissen. „Und den Bleistift, den legen Sie dann wieder in die Schachtel.“

Erwischt – der war nicht geschenkt, sondern geklaut. Claudia Ingenhoven