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: In Zirkeln durchs Käseglockenviertel

Seit März befindet sich mein Viertel unter einer Käseglocke. Zumindest glaube ich das manchmal, wenn ich durch meinen Weddinger Kiez spaziere, der nun mein Kosmos geworden ist, mein Lebensmittelpunkt, noch mehr, als er es ohnehin schon immer war. Das Viertel wirkt hermetischer als früher, als sei es näher zusammengerückt, im Inneren zusammengehalten von magischen Kohäsionskräften, die – so erinnere ich es aus dem Schulunterricht – Oberflächenspannung nach außen erzeugen: Man ist halt öfter hier als irgendwo sonst, also wird es so eng und vertraut, freundlich und argwöhnisch wie früher auf dem Dorf.

Auch die Welt der Nachbarskinder ist zusammengeschnurrt. Egal, zu welcher Tageszeit ich das Haus verlasse, die Kids sind schon da, und sie düsen mit ihren Inlineskates die immergleiche Strecke auf dem sommerwarmen Asphalt entlang. Weiter weg dürfen sie noch nicht, wenn die Eltern nicht dabei sind, aber leider haben die Eltern zu tun und keine Zeit, sie zu den aufregenderen Asphaltabschnitten zu begleiten. Andreas Dresen sollte einen Film über sie drehen.

Auch alle anderen bewegen sich in Zirkeln und Bahnen durch mein Käseglockenviertel. Die Müllerstraße scheint, Abstandsregeln hin oder her, noch voller als sonst zu sein, die Parks und Uferpromenaden sind ebenfalls überlaufen mit picknickenden Menschen. Mitten in der Sprengelstraße, wo der Bar- und Restaurantbetrieb schon wieder fast unverändert läuft, hatten am Freitag vier Freunde ihren Bulli auf dem Kopfsteinpflaster geparkt, Klappstühle und einen Campingtisch ausgeladen und zerknautschte Pizzaschnecken auf ihren Tellern verteilt, als wär’s eine Delikatesse. Ich habe sie deppert angegrinst, weil man sich über solche Szenen wie aus französischen Feelgood-Komödien natürlich immer sehr freut. Die Leute haben wieder gelernt, das einfache Leben zu genießen, Freude an wenig zu haben, nature is healing – Sie wissen Bescheid, immerhin haben Sie ja die bescheuerten Jubelartikel über „die Chancen der Krise“ gelesen, als der ganze Schlamassel begonnen hat. Vielleicht sind die Leute wirklich fantasievoller geworden, demütiger sogar, seit der Restaurantbesuch oder die Bahnfahrt nach Mitte zum Infektionsrisiko geworden ist. Vielleicht investieren sie ihr Kurzarbeitergeld aber auch lieber in den nächsten Einkauf im Discounter als in kalifornisches Craftbeer.

Der traurigste Ort im Käseglockenviertel ist die Galerie-Karstadt-Filiale am Leopoldplatz, die bald geschlossen werden soll. Hier kann man sich schon einmal anschauen, wie die Rezession aussehen wird, die uns bald blühen dürfte. Alles muss raus, alles wird verramscht, ein deprimierendes Resteprügeln um die letzten Happen auf einem zuletzt immer traurigeren Bankett. Die Regale sind längst halb leer, aber trotzdem versucht man, eine gewisse Restwürde zu bewahren, bis zum Ende ein wenig vom einstigen Glanz der Warenhäuser zu bewahren.

Irgendwie tun mir die alten Giganten der Fußgängerzonen leid. Nicht dass ich oft auf die Idee gekommen wäre, hier einkaufen zu gehen. Aber ich mochte die Idee, dass diese anachronistischen Dinger in der alten BRD ein Ort waren, an dem Menschen verschiedenster Milieus zusammenkamen, um bei Filterkaffee gemeinsam von Wohlstand zu träumen. Wenigstens in meiner Vorstellung, meine eigene Familie kann ja nur von Konsum-Läden und Westpaketen erzählen. Mir fehlt die Fantasie, mir vorzustellen, was das Warenhaus am Leopoldplatz demnächst ersetzen soll.

Ich wünschte, es würde ein Spaßbad. Ich schätze, es wird ein Einkaufscenter. Ich denke an die Mitarbeiter*innen, die gegen die Schließung protestieren. Und hoffe, sie in meinem Käseglockenviertel nicht bald immer öfter deprimiert ihre Bahnen drehen zu sehen.

Julia Lorenz