Hamburger Szene von Jan Kahlcke: Das Privileg zu pöbeln
Mein Weg zur Arbeit ist kurz. Aber für mich ist er eine Art Spießrutenlauf. Auf ein paar Hundert Metern parken mir nicht selten mehrmals Autos den Radweg zu. Wenn es nur eins ist, ist es ein guter Tag. Ich gebe zu, dass ich schon förmlich drauf warte, dass es wieder passiert. Und mit so einer Haltung, klar, mangelt es manchmal an der nötigen Gelassenheit. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle auch schon mal einräumen, dass ich gewöhnlich spät dran bin.
Dieser Morgen war ein guter Morgen. Ich war zwar spät dran, aber ich konnte die Redaktion schon sehen – und noch niemand war mir in die Quere gekommen. Ein Taxi stand auf der Bushaltestelle, kein Problem. doch der Taxikunde stand ein paar Meter weiter vorn, am Straßenrand, wild mit den Armen rudernd. Der Taxifahrer sollte gefälligst vorfahren bis zu der Stelle, wo er stand.
Wer die Stresemannstraße kennt, wird verstehen, dass der Taxifahrer es vermied, bis auf die Fahrbahn vorzurücken. Er tastete sich also behutsam zu seinem Fahrgast vor und blieb stehen, mit seiner ganzen Länge quer über den Fahrradweg.
Meine lächerliche Fahrradklingel hörte er natürlich nicht. Ich sollte doch endlich diese megaschrille Radlaufglocke – vulgo: Sturmklingel – anbringen, die seit Ewigkeiten bei mir rumliegt. Und er konnte ja auch schwerlich wieder losfahren, während sein Fahrgast die offene Tür in der Hand hielt.
Ich hub also zu meiner morgendlichen Tirade an. Sie beginnt mit einem dank meiner kräftigen Stimme vernehmlichen „Mann, Mann, Mann!“ Damit liege ich fast immer richtig. Und dann: „Wie blöde muss man sein!“ Damit liege ich nicht immer richtig. Aber in diesem Fall war die Trefferchance nicht so schlecht, wenn man es wahlweise auf den Fahrer oder auf den Fahrgast gemünzt versteht.
Ich drängelte mich hinter der Taxi-Stroßstange über den dort nur noch halb abgesenkten Bordstein. Da hörte ich hinter mir noch eine Fahrradklingel: „Ping, ping, ping.“ Ich drehe mich um. Auf dem Rad hinter mir saß ein schwarzer Mann. Er sagte kein Wort. Mag sein, dass er einfach gelassener ist als ich. Oder höflicher. Vielleicht hat er aber auch die Erfahrung gemacht, dass es besser für ihn ist, nicht in der Öffentlichkeit laut zu werden. Vielleicht hat er in solchen Situationen schon oft genug rassistische Beschimpfungen über sich ergehen lassen müssen. Vielleicht ist Pöbeln auch so ein weißes Privileg.
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