Sehnsucht nach der Welt

Von der Glorifizierung über den Kitsch zur Kritik am Schauen: Die Ausstellung „Sight Seeing. Die Welt als Attraktion“ untersucht in Emden den Blick auf Sehenswürdigkeiten

Immer wieder dasselbe Bild: Touristen in Pisa fotografieren sich vorm Schiefen Turm, fotografiert von Martin Parr für dessen Serie „Small World“ Foto: Martin Parr/Magnum Photos

Von Jens Fischer

Plötzlich aktuell, aber anders als erwartet: Während Fernreisen in Zeiten von Flugscham und jetzt auch noch Corona in weite Ferne gerückt sind, präsentiert die Kunsthalle Emden „Die Welt als Attraktion“ und befragt die dafür entwickelte Kulturtechnik, das Sightseeing. Warum wird etwas zur Sehenswürdigkeit und wie gelangt sie ins kollektive visuelle Gedächtnis? Warum zieht es umso mehr Menschen an einen Ort, je mehr Bilder von ihm publiziert werden? Und warum übernehmen viele Reisende die so formatierten Sichtweisen – knipsen Abbilder der Vorbilder, sodass die Zahl online geposteter, erschreckend ähnlicher Ich-war-auch-da-Fotos exponentiell wächst? Und wie geht die bildende Kunst damit um?

Die dargelegten Kriterien, um weltweit als Sehnsuchtsobjekt zu funktionieren, sind zwar nicht überraschend, aber sie anhand von prägnanten Beispielen selbst entdecken zu können, ist einer der großen Vorzüge der Ausstellung. „The professor’s dream“ macht sie gleich im ersten Raum deutlich.

Auf fast drei Quadratmeter Leinwand aquarellierte der englische Architekt Charles Robert Cockerell in horizontaler Staffelung die zu seiner Zeit, der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, populären Gebäude: Kathedralen, Türme, Tempel, Arenen, Paläste, Pyramiden sind zu einem Panorama menschlicher Baukunst arrangiert, im Zentrum steht der Petersdom des Vatikans. Jedes Objekt ist ein technisch innovatives wie auch optisch beeindruckendes Monument, aber nicht zum stillen Genuss oder interessenlosen Wohlgefallen, sondern zuerst als Machtbehauptung der Bauherren geschaffen, daher riesengroß dimensioniert – zum Kleinfühlen der Betrachter.

Weitere Aufmerksamkeit saugen Sehenswürdigkeiten aus der Tatsache, Bühnenbild bedeutender historischer Ereignisse und Erzählungen gewesen zu sein, sodass sich prima eine VIP-Aura darauf projizieren lässt. Wie es ein paar Jahrzehnte nach Cockerells Tod dem Reichstag in Berlin erging: Ein Ort mit bewegter Geschichte, daher aufgeladen mit unterschiedlichen Bedeutungen, je nachdem, ob auf den fotografischen Abbildungen die rote, schwarz-rot-goldene, schwarz-weiß-rote oder Hakenkreuzfahne flattert, ob der Reichstag festlich hergerichtet oder mit Bomben und Granaten ruiniert wurde.

Als Zentrum politischer Entscheidungen ist er ein Symbol für die Republikanisierung, die Selbstermächtigung der Nationalsozialisten, die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands. Eine Ikone seiner Geschichte – und Emblem der Demokratie, daher gekrönt von einer gläsernen Kuppel als Zeichen der Transparenz. Seit seiner Einweihung 1894 wurde der einschüchternde Bau grafisch porträtiert, in Öl gemalt, dahingetuscht, schließlich zu Tode fotografiert.

Die Ausstellung positioniert sich auch gegen das aktuelle rechtspopulistische Bedürfnis nach ängstlichem Sicheinkapseln im Vertrauten – als Konjunkturhilfe des Fernwehs

Die Kunsthalle zeigt, wie ihm Ai Weiwei den Stinkefinger entgegenreckt, also gegen Mythologisierung solcher Repräsentationsbauten protestiert. Annette Streyl hat den Reichstag im Maßstab 1:100 fingerfertig als Kissenskulptur nachgebildet: Strickarchitektur mit der Kuppel als silbergrauen Kapuzenbommel. Ironischer ist Must-gos des Massentourismus wohl kaum beizukommen.

Noch schöner übrigens Streyls ebenso hergestellte World-Trade-Center-Tower als riesige Topflappenhandschuhe, die wie schlappe Hosen über einer Kleiderstange hängen.

Zurück zum Reichstag darf aus aktuellem Anlass die Erinnerung an Christos Verhüllung des Palastes der Politik nicht fehlen, Entwurfsskizzen und Fotos sind zu sehen. Der kürzlich verstorbene Künstler nahm dem Gebäude 1995 die Wucht der Zuschreibungen und den Legendenstatus, mit den mal faltigen, mal windgeblähten, mal eng anliegenden Stoffbahnen verhüllte er die Umrisse und betonte sie dadurch, feierte so den Reichstag als rein ästhetisches Erlebnis.

Diese Reduktion, teilweise Abstraktion der skulpturalen Opulenz, ist neben der Glorifizierung und kritischen Ironie die dritte Haltung der in Emden präsentierten künstlerischen Auseinandersetzungen mit touristischen Hotspots. So beeindruckt die Schau auch als kleine Kunstgeschichte, als Reise durch Malstile und widerständige Darstellungsformen der Jahrhunderte.

Andy Warhol kommt beim Thema „Neuschwanstein“ mit einem Siebdruck in den Fokus, darauf ist das Märchenschloss als Störelement ins Alpenpanorama implantiert, sodass deutlich wird, worum es sich handelt: Disneyland-Kitsch. Fotograf Thomas Wrede lichtet ergötzlich Widersprüche ab – entdeckt etwa hinter Einrichtungsbiedermeier mit Häkeldeckchen und Nelkengebinde eine Fototapete der abendlichen New-York-Skyline. HA Schult hält fest, wie er seine „Trash people“-Skulpturen gegen die Vermüllung der Welt vor Sehenswürdigkeiten aufstellt.

Opulenz reduziert: Roy Lichtensteins „Pyramid“ (1969) Foto: Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Aber die Ausstellung positioniert sich auch gegen das aktuelle rechtspopulistische Bedürfnis nach ängstlichem Sicheinkapseln im Vertrauten – als Konjunkturhilfe des Fernwehs. Für diese Gemütslage war einst die Literatur der maßgebliche Spender von Fantasiebildern, bis der Buchdruck mit teilweise dokumentarischen Ansichten für die Attraktionen der Welt werben konnte. Einige der 645 in Holz geschnittenen Stadtansichten der Schedel’schen Weltchronik (1493) sind in Emden zu erleben wie auch 150 Jahre später und viel feiner ausgearbeiteten Kupferstiche von Matthäus Merian aus der „Topographia Germaniae“.

Trotz all der Anregungen wider den trostlosen Corona-Alltag bilden sich vor dem Museum keine langen Schlangen nach der Wiedereröffnung. Die Touristen seien noch nicht an der Nordsee und die Stammbesucher zumeist älter, also Corona-Risikogruppe, und daher vorsichtig abstinent, erklärt Pressesprecherin Ilka Erdwiens.

Wer kommt, muss zwar maskiert seine Bilderreise antreten, hat in jedem Raum dank Besucherbeschränkung aber viel Platz und Ruhe für den informativen Kunstgenuss, fürs genaue Hinschauen. Wie Künstler erst Reiseziele kreierten, dokumentierten, überhöhten, um dann die Effekte zu bedauern und die Magie zu hintergehen, auszunüchtern, zu desillusionieren oder lächerlich zu machen. Statt Sightseeing der Sehnsuchtsorte also „Sight Seeing“, den Blick, die künstlerische Perspektive auf sie entdecken.

„Sight Seeing“: bis 6. September, Kunsthalle Emden