Kehrtwende in der Rechtsprechung

Der Europäische Gerichtshof sagt Nein zu der bisher beliebten Praxis deutscher Ausländerämter, den straffälligen Nachwuchs türkischer Einwanderer schnell abzuschieben – in die Heimat der Eltern. Auch das Bremer Oberverwaltungsgericht lenkt ein

bremen taz ■ Fälle wie der des Münchener Türken „Mehmet“ wird es nach der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Deutschland bald nur noch selten geben. In Bremen jedenfalls hat das Oberverwaltungsgericht (OVG) die Uhren jetzt auf europäische Zeit gestellt. In einem Eilverfahren stoppte es die als Sofortmaßnahme geplante Abschiebung des 23-jährigen Sohnes eines türkischen Arbeitnehmers aus Bremerhaven.

Die Ausländerbehörde hatte die Abschiebung betrieben, nachdem der mehrfach straffällig gewordene Mann nach seiner jüngsten Haftentlassung keine feste Arbeit fand. So einfach geht es nicht, urteilten die Richter des Bremer Oberverwaltungsgerichtes analog zu einem aktuellen EuGH-Urteil (C-373/ 03): Das Aufenthaltsrecht des in Deutschland geborenen Sohnes türkischer Arbeitnehmer entfalle nicht wegen dessen Strafregisters. Keinesfalls dürfe er beschleunigt abgeschoben werden, argumentierten sie mit einem Assoziationsabkommen von 1963.

„Dieses Urteil wird weit reichende Wirkung haben“, sagt der Bremer Rechtsanwalt des jungen Bremerhaveners, Selim Kücet. „Künftig wird man Kinder türkischer Arbeitnehmer auch nach Kapitaldelikten wie Mord oder Totschlag nicht automatisch ausweisen können.“ Nach den Vorgaben des EU-Gerichtshofes müssen die Gerichte eine künftige „hinreichende Gefährdung“ als Ausweisungsgrund eigens prüfen. „Da werden sich Verwaltungsgericht sehr umstellen müssen“, prophezeit Kücet. Denn die hätten – wie im aktuellen Fall – vor allem anhand der Anzahl der Straftaten Abschiebungen zugestimmt.

Tatsächlich fordert auch das OVG eine Einschätzung, ob eine „hinreichend gewichtige Gefahr der Begehung neuer Straftaten“ besteht, „die nach gemeinschaftsrechtlichen Maßstäben eine Ausweisung rechtfertigen würde“. Das geschah nicht im Fall des Bremerhaveners, der inzwischen Vater eines kleinen Kindes mit einer angehenden deutschen Staatsbürgerin ist.

Ob der Mann überhaupt abgeschoben werden darf, muss nun erneut das Verwaltungsgericht klären. Zuvor muss das Bremer Innenressort seine Einschätzung über den Fall abgeben. Anwalt Kücet ist unterdessen optimistisch, dass sein Mandant in Deutschland bleiben darf. Denn die Bremer Richter gingen noch weiter: Die Frage, ob der Mann Arbeit habe, sei nicht relevant, urteilten sie. Jenes Assoziationsabkommen jedenfalls verpflichte den Betroffenen nicht einmal zu einer Arbeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis. Unklar sei lediglich, ob Kinder türkischer Gastarbeiter auch dann einen Aufenthalt bekommen, wenn sie Arbeit ablehnen. Für den Bremerhavener Kläger trifft das jedoch nicht zu.

Der mehrfach Vorbestrafte hatte in den sechs Monaten nach seiner jüngsten Haftentlassung zwei verschiedene Anstellungen gehabt. Während das Verwaltungsgericht ihm dies zum Nachteil auslegte, beschlossen die Oberrichter im Eilverfahren, dass dies angesichts der EU-Rechtsprechung keine Rolle spiele.

Möglich bleibt zunächst vor allem ein langer Weg durch die Instanzen – um zu klären, ob das Strafregister des Mannes doch seine Ausweisung im besonderen Fall rechtfertigt. „Aber noch sind die Akten ja alle bei Gericht“, hieß es gestern bei der Polizei in Bremerhaven. ede