ROBIN ALEXANDER über SCHICKSAL
: Wir sind hier nicht in Amerika

Kind zeugen ist nicht schwer, Kinderausweis beantragen dagegen sehr

Neulich musste ich aufs Amt, um die Niederlassung meines international operierenden Konzerns anzumelden, der in einem Berliner Problembezirk 5.000 neue Arbeitsplätze und 300 Millionen Euro jährlich an Gewerbesteuer bringen soll.

Aber vorher, dachte ich, beantrage ich noch schnell einen Kinderausweis.

An meinem freien Tag um 8 Uhr 30 betrete ich also den Warteraum der zuständigen Behörde. Und verstumme. Denn hier schweigen alle.

Ungefähr dreißig vorwiegend ausländische Mitbürger hocken still, mit gesenkten Köpfen und wirken, als sei dies nicht der Warteraum des Rathauses, sondern der Boarding-Bereich der Lufthansa-Deportation-Class.

Ab und an macht es „Klack“ und alles schaut auf die in zwei Meter Höhe angebrachte Anzeige, die eine Ziffer weiter springt. Ich ziehe die Nummer 55 und – schwupp – schon nach eineinhalb Stunden bin ich an der Reihe.

– „Guten Tag, mein Name ist Alexander.“

Die Sachbearbeiterin stellt sich nicht vor.

Warum auch? Schließlich hat sie die Insignien des deutschen Berufsbeamtentums vor sich auf dem Tisch: einen halben Apfel, geschält und in Scheiben geschnitten auf einer Untertasse. Und die unvermeidliche persönliche Kaffeetasse, die in diesem Fall mit einer lustigen Zeichnung verziert ist und mit einer Erklärung, woher der Name Ingrid stammt.

– „Hallo Ingrid“, hätte ich das Gespräch begonnen, wenn ich in Amerika wäre. Ich bin aber nicht in Amerika. Dennoch fühle ich mich so sicher, dass ich keck sage: „Ich möchte bitte einen Kinderausweis beantragen.“

Vielleicht habe ich nicht die notwendige Demut gezeigt. Aber ich dachte, so kompliziert kann das ja nicht sein, ich habe doch alles dabei: das Kind. Ein Foto (des Kindes). Die Geburtsurkunde (des Kindes). Das Dokument, das mich amtlich ausweist als nicht verheirateten Teilsorgeberechtigten (des Kindes). Außerdem den Wagen (des Kindes), den ich in den zweiten Stock gewuchtet habe. Alles da. Eine fehlt.

– „Wo ist die Mutter?“, fragt Ingrid.

– „Sie schläft aus. Sie wissen schon: Junge Mütter sind oft etwas mitgenommen. Aber es geht ihr gut. Danke der Nachfrage.“

– „Die Mutter muss hier sein.“

– „Warum?“

– „Beide Eltern müssen unterschreiben?“

– „Warum?“

Ingrid antwortet nicht.

Als ich noch Journalismus studierte, gebrauchte ich einmal bei einer Recherche das Wort „behördliche Auskunftspflicht“. Im Bauamt der Stadt Leipzig lachen sie noch heute darüber.

– „Ich bin sorgeberechtigt. Ich habe außerdem eine Vollmacht der Mutter. Ich habe außerdem das Kind“, sage ich.

– „Die Mutter muss unterschreiben“, sagt Ingrid.

– „Und wenn sie tot wäre?“

– „Dann läge der Fall anders“, sagt Ingrid.

Zurück im Warteraum. Ich ziehe die Nummer 86, ignoriere das Handyverbot und rufe zu Hause an. Meine Freundin hasst es, an meinem freien Tag geweckt zu werden. Deshalb entscheide ich mich für eine sehr drastische Ansage.

– „Du musst sofort ins Rathaus kommen! Sonst bekommt unser Junge keinen Kinderausweis, kann nie verreisen, wird später xenophob und bringt Skinheadfreunde mit nach Hause.“

– „Gibt es keine Alternative?“

– „Doch, bring dich sofort um.“

Meine Freundin hat sich nach einer kurzen Bedenkzeit entschieden, ins Rathaus zu kommen. Mit Ingrid hat sie sich nicht so gut verstanden. Außerdem haben wir noch den Unterschied zwischen einem Passfoto von einem Baby und einem kinderausweistauglichen Passfoto von einem Baby gelernt.

Als wir den Ausweis endlich in den Händen halten, atmen wir auf: „Gültig bis 2015“ steht darin.

– „Das gilt nur mit einem aktuellen Foto“, sagt Ingrid unaufgefordert, „Sie müssen also wiederkommen, sobald sich das Äußere des Kindes verändert.“

– „Äh, bei Kindern ändert sich das Äußere recht schnell“, wende ich ein.

– „Ja. Bringen Sie die Mutter mit.“

Fragen zur behördlichen Auskunftspflicht in Sachen Kinderausweis? kolumne@taz.de