das ding, das kommt
: Schwärmerisch
vors Schienbein
geküsst

Will nicht gesehen werden: Sindings „Adoratio“ Foto: Marcus Meyer/Kunsthalle Bremen

Ein besseres Beispiel für die Ambivalenz von Nähe und Distanz hätten auch die schönsten Coronaträume nicht erbracht: Da kniet ein nackter junger Mann zu Füßen einer ebenso nackten, auf ein Podest gesetzten Frau. Er küsst ihr das Schienbein gleich unterhalb des linken Knies. Und doch – oder gerade deswegen, ist ja unwürdig, diese Buckelei – scheint er Lichtjahre entfernt. Heute würde man sagen: Der Kuss ist eine inszenierte, publikumswirksame Geste, und ein gesichtsloses Schienbein küsst sich allemal leichter als ein konkreter Kopf. Und der Psychologe würde sekundieren: Ja, die „Adoratio“-Skulptur des 1922 verstorbenen dänisch-norwegischen Bildhauers Stephan Sinding ist die exakte Verkörperung der „Heilige Hure“-Ambivalenz im jahrtausendealten Frauenbild vieler Männer.

Überhaupt macht sich der übermäßig von seiner „Muse“ Schwärmende ja verdächtig, vermutet man doch – oft zu Recht –, dass er im Alltag längst nicht auf Augenhöhe mit dieser Frau verkehrt. Dieser Subtext muss wohl auch den Verantwortlichen der Bremer Kunsthalle missfallen haben, die die 1907 geschaffene Marmorskulptur im Jahr 1957 geschenkt bekamen. Denn nicht nur, dass sie das Werk „unter Vorbehalt“ nahmen. Es wurde auch weder in den Schenkungskatalog noch in die Schausammlung integriert. Man schämte sich wohl – und verbannte das pathetische, stilistisch zwischen dem Klassizisten Aristide ­Maillol und dem Vor-Expressionisten Auguste Rodin rangierende Werk ins Depot. Da hätte es einfach bleiben können, wären nicht die KuratorInnen der neuen, am 5. 6. eröffnenden Dauerausstellung „Remix 2020“ auf die Idee gekommen, die „Adoratio“ hervorzukramen und endlich auch zu zeigen – und sei es als Diskussionsbeitrag über ästhetische Maßstäbe oder den Umgang mit Schenkungen. Aber wie das halt so ist: Als hätte das Freud’sche Unbewusste eingegriffen, plante man „Adoratio“ für den ersten Stock. Für dessen Boden ist die 1,3-Tonnen-Skulptur aber zu schwer. Und im Erdgeschoss könne man sie nicht zeigen, weil es da andere Konzepte gebe, heißt es.

Man hätte natürlich umplanen können. Aber so prominent und quasi gleich beim Reinkommen wollte man das Werk wohl doch auch wieder nicht platzieren. Hätte ja als Visitenkarte der Ankaufspolitik der Kunsthalle durchgehen können. Außerdem: Wer die „Adoratio“ nun unbedingt sehen will, kann ja schnell in Kopenhagens „Ny Carlsberg Glyptotek“ fahren. Da steht sie in Originalformat nämlich noch mal – dazu im Hof Sindings Monumentalwerk „Mutter Erde“. Und das ist dann nicht mehr nur „schwärmerischer Realismus“, sondern hoch pathetischer Nationalismus. Aber dazu ein ander Mal. Petra Schellen