Flug in die Freiheit

AUS BISCHKEK MARCUS BENSMANN

Mukataz Alibajewa soll heute in die Freiheit fliegen. Ihre Trauer wird die 46-jährige Usbekin mitnehmen, sie wird ihr weiteres Leben begleiten. „Sie haben meinen Sohn getötet“, schluchzt sie. Alibajewa erinnert sich stockend an den Albtraum, als sie vor mehr als zehn Wochen aus ihrer Heimat vertrieben wurde. Mukataz Alibajewa flüchtete mit ihren beiden Söhnen am Abend des 13. Mai in Andischan vor dem Kugelhagel der usbekischen Sicherheitskräfte. Plötzlich traf eine Kugel den Kopf ihres 22-jährigen Sohnes. „Ich musste ihn verblutend zurücklassen“, erzählt sie, „überall lagen Tote, wir mussten rennen, rennen, rennen.“

Nach Angaben des Flughafens der kirgisischen Hauptstadt Bischkek soll am heutigen Freitag eine Boeing 747 Alibajewa zusammen mit 450 weiteren Flüchtlingen von Bischkek nach Rumänien ausfliegen. Das UN-Flüchtlingswerk (UNHCR) hat die „humanitäre Evakuierung“ in die Wege geleitet, erklärt der Chef der UN-Mission, Carlos Zaccagnini. Damit hat der Spanier offenbar das zehnwöchige Machtpoker um das Schicksal der usbekischen Flüchtlinge gewonnen und sie vor dem Zugriff des usbekischen Staates gerettet. „Wir haben 451 Usbeken den UN-Flüchtlingsstatus verliehen und gehen davon aus, dass alle ausfliegen können“, sagt Zaccagnini auf dem Flughafen von Bischkek.

Das Tauziehen um die Usbeken begann, als sich in der Nacht zum 14. Mai 459 Flüchtlinge aus Andischan nach Kirgisien retten konnten, unter ihnen auch Alibajewa mit ihrem verbliebenen Sohn. Noch am Morgen des 13. Mai war sie mit ihren beiden Söhnen erwartungsvoll auf den zentralen Platz der usbekischen Provinzstadt im Ferghanabecken geeilt. „Wir hatten am Morgen gehört, dass das staatliche Verwaltungsgebäude besetzt sei und davor die Menschen demonstrierten“, erzählt Alibajewa. Sie gesellten sich zu den tausenden Menschen und warteten auf den usbekischen Präsidenten Islam Karimow. Ein Gerücht ging um, dass Karimow höchstselbst nach Andischan kommen wollte, um mit den Menschen zu reden. Doch der Präsident kam nicht, stattdessen schickte er Truppen des Innenministers. Am frühen Abend schossen sie ohne Vorwarnung von Panzer- und Lastwagen auf die Menschen. Frauen, Kinder und Männer suchten Schutz hinter Wänden, in Straßengräben oder warfen sich einfach auf den Boden. Als Schützenpanzer die Gassen verstellt hatten, blieb nur die Flucht über die Hauptstraße. „Wir waren zuerst einige tausend, doch wir wurden immer weniger“, erzählt Alibajewa.

Zuerst lagerten die Usbeken in Sichtweite der Grenze. Nach einigen Tagen wurden sie von den von den kirgisischen Behörden in ein von dem UNHCR errichtetes Lager in der Nähe der südkirgisischen Stadt Dschal-Alabad umgelagert. Zwischen grasbewachsenen Erdhügeln öffnet sich eine Erdmulde, in der Zelte aufgebaut waren. Auf den Hängen hatte die kirgisische Armee zwei Posten eingerichtet. Die Männer hatten zusammen mit dem UNHCR im Lager Waschräume, Aborte und Kochecken gebaut. „Wir können alle Arbeiten selber tun“ sagte ein 24-Jähriger, „denn wir alle hatten in Andischan einen Beruf oder ein Handwerk.“ Die Männer wollen bis zur ihrem Abflug ihre Namen nicht nennen, zu groß ist die Furcht, dass der usbekische Staat auch ihre Auslieferung fordert.

Unter freiem Himmel ging der Barbier seiner Arbeit nach. Rasierklingen waren das Erste, was die Männer erbaten. „Wenn uns Bärte wachsen“, sagte ein Mann bitter, „werden wir gleich zu Islamisten abgestempelt.“

Agenten bieten 10.000 Dollar

Gemeinsam mit anderen Frauen hatte Mukataz Alibajewa mit goldgewirktem Faden auf samtrotem Tuch ein Sonnenrad, das Wappen Kirgisiens, gestickt. Ein Präsent für den kirgisischen Staat. Lange sah es nicht so aus, dass dieses Geschenk die Menschen zu retten vermag. An der Zufahrtsstraße zum Lager parkten stundenlang dunkle Limousinen mit getönten Scheiben in der Hitze. „Das sind Mitarbeiter des usbekischen Geheimdienstes“, sagte ein Flüchtling. Diplomaten und Mitarbeiter des UNHCR bestätigen, dass sich der usbekische Geheimdienst überall im Süden Kirgisiens frei bewegen kann. Vier Männer wurden in den ersten Wochen aus dem Lager regelrecht herausgekauft und über die Grenze nach Usbekistan verschleppt. Einer von ihnen liegt nun halb tot gefoltert im Krankenhaus, die anderen drei sind in Gefängnissen verschwunden. Die vier Männer waren Sprecher der Flüchtlinge, ihre Namen gingen durch die Presse – das war ihr Verhängnis. Ein Journalist, selbst Usbeke, berichtet, dass ihm ein Geheimdienstmitarbeiter 10.000 Dollar angeboten habe, wenn er das Versteck eines der Anführer des Aufstandes von Andischan nenne.

Usbekistan versuchte nicht nur mit Hilfe von Agenten, der Flüchtlinge habhaft zu werden. Am Anfang zwangen usbekische Behörden die in Andischan verbliebenen Familienangehörigen dazu, nach Kirgisien zu reisen und ihre Verwandten zurückzuholen. Dramatische Szenen haben sich im Lager abgespielt. Alter Männer und Frauen, die heulend ihre Söhne und Ehemänner zur Rückkehr bewegen wollten, die Drohung des usbekischen Geheimdienst im Nacken. Ein junger Mann ist zurückgekehrt. Erst wurde er in der usbekischen Presse gefeiert, dann von den Behörden in Andischan abgeholt.

Für die usbekische Regierung war der Aufstand in Andischan ein Putsch von Islamisten und Terroristen, und zumindest die männlichen Flüchtlinge sind nach offizieller usbekischer Lesart alle Terroristen. In einer Erklärung, die die beiden zentralasiatischen Staaten unterschrieben haben, ist die sofortige Auslieferung von Terrorverdächtigen vorgesehen, und so beharrt der usbekische Staat auf der Einhaltung des Vertrages.

In einem aus abgewetzten Möbeln bestehenden Büro in Dschal-Alabad sitzt ein kirgisischer Ermittler. Für ihn sind die Flüchtlinge ebenfalls Terroristen. „Ich kann Islamisten riechen“, behauptet der stämmige Mann. „Viele usbekische Kollegen kenne ich noch von der Ausbildung, warum sollte ich an deren Worten zweifeln?“

Der eifrige Ermittler aus Dschal-Alabad folgt den Vorgaben des kirgisischen Generalstaatsanwaltes Asimbek Beknasarow, der lieber alle Flüchtlinge nach Usbekistan ausgewiesen hätte. Dagegen standen die UN-Flüchtlings- und Antifolterkonvention, die Kirgisien zum Schutz der Usbeken verpflichtete.

Doch 29 Männer hat die kirgisische Staatsanwaltschaft bereits im Lager verhaften lassen, insgesamt hat Usbekistan die Auslieferung von 300 Männern gefordert. Die 29 Usbeken sitzen seither in einem Gefängnis in der südkirgisischen Stadt Osch. Nach Angaben des UNHCR gehören 17 der in dem Gefängnis einsitzender Männer zu den 23 angeklagten Geschäftsleuten, die beim Aufstand in Andischan aus dem Gefängnis befreit worden waren. Der Prozess gegen diese 23 Männer entwickelte sich bis zum 11. Mai zu einer Farce, gegen die über ein Jahr lang mehrere tausend Andischaner friedlich demonstrierten. Der usbekische Staatsanwalt hat trotz Folter und Drohungen den Vorwurf Terrorismus und Verfassungsfeindlichkeit gegen die zumeist erfolgreichen Geschäftsleute fallen gelassen. In einem Interview zwei Tage vor dem Aufstand eröffnete dieser Staatsanwalt, dass die von ihm angeklagten Männer zwar keine Straftat begangen hätten, dass man sie aber rein prophylaktisch zu sechs Jahren Gefängnis verurteilen müsse. Im Verlauf des Aufstandes wurden ein Richter und ein Staatsanwalt getötet. Die usbekische Staatsanwaltschaft beschuldigt die in Osch einsitzenden Flüchtlinge dieser Tat, während Zeugen in Andischan einhellig erklärten, dass der Staatsanwalt von den usbekischen Sicherheitskräften erschossen worden ist. Der UN-Missionschef Zaccagnini erklärt, dass die 25 inhaftierten Männer ebenfalls den UN-Flüchtlingsstatus erhalten haben. „Wir fordern, dass auch diese ausfliegen können“, sagt er. Ein Flugzeug stehe in Osch bereit. Die Flüchtlinge aus dem Lager wurden bereits Mittwoch und Donnerstag aus Dschal-Alabad nach Bischkek geflogen, wo sie auf den Weiterflug warten.

Verhandeln bis zum Abflug

Vier der in Osch Inhaftierten wurde kein Flüchtlingspass ausgestellt, sie sollen an Straftaten beteiligt gewesen seien. Während schon zwei usbekische Gefangenentransporte am Mittwoch vor dem Gefängnis in Osch gesichtet wurden, ging das Ringen um die anderen 25 Männer weiter. Es ist zu hören, dass man einige Usbeken nicht ausreisen lassen wolle. Offenbar will Kirgisien die usbekische Seite nicht völlig brüskieren. Zaccagnini stand gestern mit den Ausreisepapieren für die 25 Männer vor der Tür des Generalstaatsanwalts Beknasarow. Dieser ließ den UN-Diplomaten bis zum Abend nicht vor. Es dürfte bis zum Abflug der Maschine um jeden einzelnen der 25 Inhaftierten verhandelt werden.

Die Odyssee von Mukataz Alibajewa könnte auch in Rumänien noch nicht vorbei sein. Möglicherweise wird Kanada die Flüchtlinge endgültig aufnehmen. So meldete es eine russische Nachrichtenagentur. Doch zehn Wochen nach dem Massaker in Andischan sind sie wenigstens in Sicherheit.