Eine Familie bleibt bei ihren Leisten

Während eines „Praktikums“ lernt der junge Carl Benscheidt (1858–1947) im Sanatorium des „Sonnendoktors“ Arnold Rikli die fortschrittlichen neuen Reformschuhe kennen. Sie basieren auf der Idee, dass die Sohlenform dem natürlichen Fuß zu folgen und den Zehen Freiraum zu bieten habe, statt sie – wie bei den modischen Modellen des Kaiserreichs üblich – zusammenzupferchen. Auf Umwegen führt ihn sein Weg einige Jahre später zur eigenen Leisten- und Schuhwerkstatt in Hannover, schließlich in die Schuhleistenfabrik C. Behrens in Alfeld an der Leine, aus der er 1910 nach über zwanzig Jahren verantwortlicher Tätigkeit ausscheidet.

1911: Carl Benscheidt gründet das Fagus-Werk (der Name leitet sich ab vom Lateinischen Fagus silvatica, Rotbuche, dem damaligen Hauptwerkstoff für Schuhleisten).

1920er Jahre: Einführung der von Karl Benscheidt mitentwickelten Fagus-Genauigkeitsdrehbank. Sie ist vergleichbaren Produkten entwicklungstechnisch um Jahre voraus. Auch beim Leisten hat Fagus die Nase vorn: Fußgerechte Passform genießt Priorität und wird mit namhaften Wissenschaftlern ständig überarbeitet. 1925: Fagus richtet ein Verkaufsbüro in Pirmasens ein, damals die deutsche Schuhmetropole.

1939 bis 1945: Fagus muss wie viele Unternehmen die Auflagen der Kriegswirtschaft erfüllen. Neben Leisten für die Herstellung von Militärstiefeln produziert man Gewehrkolben, Leiterwagen, Tischbeine, Propeller und Kleiderbügel.

1950er-Jahre: Fagus organisiert sich im Fachverband der Leistenhersteller. Mit Zulieferbetrieben für Absätze, Sohlen, Kappen etc. wird die Abstimmung ihrer Produkte auf das Endprodukt Schuh organisiert.

1960: Als erster deutscher Hersteller ersetzt Fagus den Werkstoff Holz durch den Kunststoff Polyäthylen. Die Farbe Grün wird zum Fagus-Markenzeichen. Erst der formstabile Kunststoff erlaubt ab sofort auch extrem spitze Formen, die, in Holz gearbeitet, das Risiko bergen, im Fertigungsprozess zu brechen. Mit dem neuen Material sind die Weichen gestellt für die Entwicklung modernster Hightech-Maschinenleisten. Diese werden nicht in herkömmlicher Form auf einer Drehbank kopiert, sondern gefräst. Das erlaubt eine Oberflächengenauigkeit von einem Zehntausendstelmillimeter, wie sie für die „Roboterfertigung“ in teilautomatisierten Fertigungsstraßen nötig wird.

Mitte der 1960er-Jahre: Der Grashopper-Mokassin von Sioux und die Tieffußbettsandale von Birkenstock, zwei international erfolgreiche deutsche Konzeptschuhe, werden über Fußformleisten aus dem Hause Fagus entworfen. 1974: Gerd und Ernst Greten, Enkel von Karl Benscheidt jun., übernehmen die Unternehmensleitung. Sie bereinigen die Produktpalette und forcieren die Spezialisierung auf moderne Maschinenleisten.

1990: Mit dem Fagus-Kunden Ecco und den Universitäten Kopenhagen und Hannover wird das Forschungsprojekt Topsys vorangetrieben, das die Nutzung eines modernen CAD-Instrumentariums (Digitalisierung von Leisten etc.) vorsieht und innerhalb weniger Jahre perfektioniert. Damit können Leisten auch als „körperlose“ Datenpakete dorthin verschickt werden, wo sie gebraucht werden. Das erlaubt eine Vervielfältigung des von Fagus modellierten Musterleistens an dem Ort, wo sich die Schuhfabrikation befindet, und erspart aufwendige Transporte.

2000: Fagus wird als modernes Technologiezentrum externes Projekt der Expo 2000. Im stillgelegten Leistenlagerhaus auf dem Fagus-Gelände in Alfeld wird eine Sonderausstellung zum Thema „100 Jahre Fußgesundheit, Leisten, Schuhmode“ gezeigt. Mai 2005: Die Expo-Sonderausstellung wird, gefördert mit Geldern des Landes Niedersachsen, überarbeitet und als Dauerausstellung neu eröffnet. Öffnungszeiten: Mo. bis Fr. 9 bis 16, Sa. und So. 9 bis 13 Uhr. Für Führungen Anmeldung unter (0 51 81) 7 90. NB