Der Herr der Kringel

Rudolf Englert hat seine ultimative Form entdeckt. Mehr kann ein Maler kaum wollen. Sein Ruhm ist trotzdem kaum über die Grenzen des Osnabrücker Landes gedrungen. Aber: Es wird daran gearbeitet

von Benno Schirrmeister

Irgendwann ist Rudolf Englert auf den Kringel gekommen. Vielleicht, nein, ganz sicher war er schon vorher da, der Kringel, den Englert Schlaufe genannt hat, geradezu zwangsläufig, weil es Malerei ohne Kringel nicht gibt.

Aber in den späten Jahren, da steht er plötzlich alleine, der Kringel, der wirklich Schlaufe genannt werden müsste, und hat auf einmal alles in Besitz genommen – die ganze Malerei. Farbig wuchert er über uni grundierte Leinwände, weiße Kringel überdecken orangene, rote und pastös-grüngoldene Kringel, kleine Kringel wachsen große zu, wilde Kringel und gepflegte Kringel, Heerscharen von Kringeln, Kringelstürme, Kringelwüsten. Gut möglich, dass die Geschichte Rudolf Englerts die Geschichte einer großen Obsession ist. Und vielleicht auch die von großer Kunst.

Zack, fliegt die Tür des klapprigen Fiesta zu und schwungvoll gurtet sich Susanne Tauss an. „Das sind schon Spitzenwerke“, sagt sie sehr entschieden, und guckt streng, während sie den Motor anlässt. „Das sagen alle, die es gesehen haben.“ Susanne Tauss ist Kunsthistorikerin. Und sie ist Geschäftsführerin des Landschaftsverbandes Osnabrück. Der ist zuständig für Kultur- und Heimatpflege rund um die Bischofsstadt. Und da ist der 1989 gestorbenen Maler ein Langzeitprojekt, nein, längst schon eine Herzensangelegenheit. Präziser: Seine Wiederentdeckung. Oder noch genauer: „Es geht darum“, sagt Tauss, „Englert überhaupt erst einmal bekannt zu machen.“

Also karrt sie Englert-Interessierte auch mal mit ihrem Geschäftsführerinnen-Privat-Wagen – das rechte Wischerblatt müsste erneuert werden – durch die hügelige Regen-Gegend, ins etwas nördlich gelegene Ostercappeln, wo Englert Haus und Atelier hatte und wo seine Witwe lebt. Aber zuvor natürlich zur aktuellen Ausstellung in der Kunsthalle Dominikanerkirche: „Geschriebene Bilder“ heißt die, und sie sei vergleichsweise gut besucht, noch dazu „wenn man bedenkt, dass Ferien sind“. Karin Thomas war da, die einflussreiche ehemalige Chef-Lektorin des DuMont-Verlags, und sie hat das Werk bei einer Podiumsdiskussion ein „gewichtiges Stück Kunstgeschichte“ genannt. Und bei der Eröffnung hat der für einen Ästhetik-Professor außerordentlich prominente Bazon Brock viele Worte gemacht, überschwängliche, wie stets, aber auch kluge. Dass es wieder Spaß mache, einen Nachlass zu hinterlassen, hat er gesagt, und die Pointe hat auch der Rezensent der Neuen Osnabrücker Zeitung notiert. „Wenn man derartig wahr behütet wird“, so Brock, „dann erfüllt sich etwas, was man selber gar nicht planen kann“

Seinen Nachruhm hat Englert ganz gewiss nicht geplant. Und die Voraussetzungen, ihn herzustellen sind denkbar schlecht: Nachschlagewerke kennen seinen Namen nicht, in den kunsthistorischen Überblicks-Büchern findet er nicht statt, und die einschlägigen Datenbanken erwähnen wohl den Architekten Paul Engler, der die Pläne des ersten Berliner Flughafens gezeichnet hat. Sie führen sogar einen gewissen Marco Antonio Engmann auf, der im 18. Jahrhundert Hof-Buchdrucker zu Würzburg war. Aber dazwischen müsste doch der Name Englert stehen. Und er fehlt. Noch immer. Obwohl im Auftrag des Landschaftsverbandes bereits seit zehn Jahren an einem Werkkatalog gearbeitet wird. Und obwohl seit einem Jahr der Verein „Lebensschlaufe“ mit nunmehr über 60 Mitgliedern für die „Wahrung des künstlerischen Lebenswerkes von Rudolf Englert“ eintritt, und bald eine Stiftung gegründet werden soll: Noch reicht die Strahlkraft des Namens kaum über den Landstrich zwischen Dümmer und Teutoburger Wald hinaus.

„Er hat“, weiß Vereinsgründer Friedhelm Spiekermann, „nie so einen richtigen Durchbruch gehabt.“ Mit der ersten Retrospektive habe man 2003 zwar dafür gesorgt, „dass es ihn überhaupt wieder gibt“, sagt der Chef einer Finanzdienstleister-Unternehmens. Aber es müsse noch viel geschehen, damit der Maler „aus der Anonymität herausgehoben“ wird. „Das ist harte Arbeit“.

1961 zieht Englert ins Osnabrücker Land. Zuvor hatte er in Berlin gelebt. In Berlin fing er gerade an, sich als freier Künstler einen Namen zu machen. Es gab Besprechungen in lokalen Zeitungen und Englert passte die Größe seiner Tafelbilder dem Stauvermögen seines Autos an. „Audi-Format“ habe ihr Mann das genannt, sagt Hildegard Englert. Mit der Kunst im Kofferraum sei er zu den Galeristen gefahren, berichtet sie, anschaulich, als wäre sie dabei gewesen, obwohl sie ihn da noch gar nicht kannte: Er muss auch ein guter Erzähler gewesen sein.

In Osnabrück soll der damalige Kunsthallen-Chef in Sachen Englert erst mal klar gestellt haben, dass er ‚diesen Tapetenmaler jedenfalls nicht‘ ausstellt. Grund daran zu zweifeln gibt es keinen. „Aber er hat später Abbitte geleistet“, beharrt Hildegard Englert, „die letzte Ausstellung seiner Amtszeit hat er meinem Mann gewidmet.“ Das war 1981, da war der Künstler 60 Jahre alt, acht hatte er noch zu leben, und die serielle Malerei, der sich Englert nun einmal verschrieben hatte, fing an, außer Mode zu geraten.

Der Himmel ist bedeckt, aber es ist hell in den Räumen: große Fenster in üppige Botanik, die Bäume sind so weit vom Haus gepflanzt, dass sie das diffuse Tageslicht nicht hindern. Hildegard Englert ist Inhaberin einer Gärtnerei, und die Kaffeetafel ist akkurat gedeckt, selbst gebackene Erdbeertorte inklusive.

Sie sei immer für die Kontakte nach außen zuständig gewesen, sagt sie, sehr lebendige Augen, silbergrauer Kurzhaarschnitt, ihre Eltern hätten eine Gaststätte gehabt. Also habe sie sich um die Abrechnungen gekümmert „und um Handwerkliches“. Anfangs, als sie ihn kennen lernte, seien ihr die abstrakten Bilder radikal fremd gewesen: Das verstehst du nie, habe sie sich gesagt. Bis er, der auch Kunsterzieher war, sie ihr erklärt hat.

Das schmale Zimmer, in dem ihr Mann gemalt hat, ist nur wenig verändert, das Material-Regal gar nicht: Peinliche Ordnung herrscht in den Gefachen, die Kästen mit Ölkreiden, die Schubladen mit Griffeln, Federn, Flo-Marker und Grafit-Stiften, die Reihen der Kunststoffflaschen mit Farbe, alles hat seinen Platz, daneben hängt der Kittel, an dem die Pinsel und Hände abgestrichen wurden. Was fehlt ist der Geruch von Terpentin und Lack.

Einmal, das ist eine Geschichte, die aufgeschrieben werden darf, hat Rudolf Englert in der Gärtnerei angerufen, dass sie, Hildegard, seine Frau, dringend nach Hause kommen müsse. Und zwar, um über die Terrasse krabbelnde Ameisen zu beseitigen, die ihn am Malen hindern würden – obwohl er die vom Atelier im ersten Stock nie und nimmer hätte sehen können. „Und ich wusste: er hätte dann wirklich nicht malen können.“ Andere Erzählungen sollen ungeschrieben bleiben, vielleicht, weil sich unter den Englert-Fans auch Apologeten der Reinheit des Werks befinden, die wenig vom Zusammenhang zwischen Leben und Kunst halten. „Er hat die Bilder als sein Tagebuch bezeichnet“, sagt Hildegard Englert.

Es gab auch Anerkennung in der Provinz, die Englert in Berlin nie widerfahren wäre. So wurde schon zu seinen Lebzeiten die Straße, in der er wohnte, nach ihm benannt. Mit einer Sondergenehmigung des Stadtrats. Und er selbst erfuhr davon erst, als er von einer Italienreise zurück kam. Und war verärgert.

In den Englertschen Wohnräumen quellen die Regale über, Kunstbücher, Kataloge, aber auch gesammelte Kleinskulpturen und eigene Plastiken: Schlaufen aus Draht und Gips, in unterschiedlichen Farben, und auf Holzsockeln befestigt, über die kleine Kringel wandern, in einer strengen Choreografie, die doch anarchisch wirkt. An den Wänden Gemälde und Grafiken, die die Hausherrin von Zeit zu Zeit umhängt, „denn es soll“, stellt sie klar „kein Mausoleum sein“.

Ihr im Rücken, an der Wand zur Küche, hängt momentan ein riesiges Gemälde in ruhigen, abgeklärten Blautönen: Die Grundierung changiert von Azur über Pastell-Abstufungen bis nahezu Weiß, darüber eine dunkle, fast die gesamte Bildfläche umschließende Riesenschlaufe, über die sich reihenweise Kringel schichten: Lila, Ultramarin, und Preußischblau. Aber es hängen auch weiße Bilder da, die Anfang der 1960er Jahre entstanden sind, auch eine Serie goldener Daumenabdrücke auf schwarzem Grund, und daneben Blätter, die aussehen wie Texte, ohne es zu sein: Kalligrafien aus unlesbaren Buchstaben, Notensysteme ohne Klang. Ähnliche sind auch in der Dominikanerkirche zu sehen, und im Katalog steht, dass Englert mit ihnen „die Siglen, die Chiffren zurück in die Abstraktion selbst“ hole.

Das Haus des Malers verändert den Blick. Während sie in der Kunsthalle wie das Gegenstück der großen Gemälde wirken, scheinen die Grafiken hier konsequent verfolgte Versuchs-Reihen, einer stetigen Reduktion des Zeichen-Repertoires, bis schließlich die eine Figur gewonnen ist, die kein Kringel ist, sondern eine Schlaufe, vielsagend, aber nicht zu deuten, sinnvoll bis zur Sinnlosigkeit. Gesichert ist nur ihre Funktion: Mit ihr gestaltet der Maler Bewegung in sämtliche Richtungen, die Leinwand wird zum Raum. Und Hildegard Englert berichtet, was ihr Mann gesagt hat, als er bis zu seiner alternativlosen Form vorgedrungen war.

Nein, das verrät nichts über malerisches Können oder gar die Möglichkeit von Ruhm, Marktwertsteigerung und Ausstellungserfolgen. Wenn aber Kunst eine Art des Erkennens ist, dann spricht daraus eine unbedingte Gewissheit, und ein wahrer Triumph. Es war Anfang der 1980er Jahre, den genauen Tag weiß auch sie nicht mehr. Aber gewiss ist, was er gesagt hat, damals als er die Schlaufe entdeckt hatte. „Das ist die Form“, das waren seine Worte, „mit der ich alles ausdrücken kann, was ich ausdrücken will, in der Malerei.“

Rudolf Englert – Geschriebene Bilder, Kunsthalle Dominikanerkirche, Osnabrück. Di-Fr 11-18, Sa/So 10-18 Uhr. Bis 21. August