79 Minuten lang Blau

„Das Endprodukt ist nicht wirklich wichtig, es ist nur Zeuge eines kreativen Prozesses“: sagt Derek Jarman, dessen Werk in einer Retrospektive den August über im Arsenal läuft. Sämtliche Spielfilme und eine große Auswahl von Kurzfilmen sind zu sehen

VON SEBASTIAN FRENZEL

Am Ende hat Derek Jarman keine Bilder mehr machen wollen, er, der sein Leben lang als Maler, Bühnenbildner, Videoclip-Produzent und Filmemacher gearbeitet hatte. „Bilder sind die Kerkerwände der Seele“, heißt es in „Blue“, Jarmans letztem Film, der wenige Monate vor seinem Tod in Folge einer Aids-Infektion im Jahr 1994 erschien. 79 Minuten lang sieht man nichts als einen tiefblauen Bildschirm, begleitet von Musik und Stimmen aus dem Off, die Tagebuchnotizen Jarmans vortragen.

„Blue“ war eine Reaktion auf Jarmans krankheitsbedingte Erblindung – im Film beschreibt er, wie blaue Blitze in seine Augen schießen, als man ihm im Krankenhaus in die Pupillen leuchtet – doch der Film ist weit mehr als das. „Wie werden wir gesehen, wenn wir überhaupt gesehen werden“, fragt eine Stimme in „Blue“ – eine Anklage gegen die öffentliche Ignoranz gegenüber Aids, zugleich aber auch die Frage danach, was Bilder, was Repräsentation im Film bedeutet.

Die Größe dieses Films wird deutlich, wenn man ihn mit einem anderen (und nicht einmal schlechtesten) „Aidsfilm“ vergleicht, der im selben Jahr wie „Blue“ erschien. In Jonathan Demmes „Philadelphia“ bringt Tom Hanks allzu deutlich die Insignien eines Aidskranken auf die Leinwand, kann der Zuschauer in einer Sexszene den Moment der Infektion „nachvollziehen“, die „Ursache“ der Krankheit ausfindig machen. Das Leiden des Tom Hanks kann man betrachten, doch Jarmans Konfrontation ist weitaus direkter, gerade indem er jede Darstellung verweigert – und jede narrative Logik sprengt.

Die vorgetragenen Szenen in „Blue“ springen zwischen Krankenhausaufenthalten und Liebesszenen, zwischen Erinnerungen an Freunde und Reflexionen über den Tod. Jarman sagt mit seinem Film: Ich hatte Sex mit Männer, und ich habe mich mit Aids infiziert. Er sagt nicht: Ich hatte Sex mit Männer, daher habe ich mich mit Aids infiziert.

„Blue“ ist Kino verkehrt: Der Zuschauer projiziert hier die Bilder auf die (innere) Leinwand. Was in gewisser Weise symptomatisch für das Selbstverständnis Derek Jarmans ist, dessen Filme in einer Retrospektive jetzt im Kino Arsenal gezeigt werden. Denn Jarman hat das Machen seiner Filme weit mehr interessiert als das Resultat: „Das Endprodukt ist nicht wirklich wichtig, es ist nur Zeuge eines kreativen Prozesses“. „Jedermann sollte kreativ an das eigene Leben herangehen, denn es macht einen auf gewisse Weise mensch licher.“

Eigene Bilder machen, eigene Wirklichkeiten herstellen. Jarmans erste Super-8-Filme entstanden in den frühen 1970er-Jahren. Praktisch ohne Budget aufgezogen und mit Laiendarstellern besetzt, tauchen diese home movies ein in den Alltag der gay community, in Jarmans eigenes Leben und das seiner Freunde. Um den Unterschied zwischen dokumentarischen und fiktionalen Arbeiten hat sich Jarman nie geschert – seine Filme zeigen in radikal subjektiver Perspektive eine Realität, die bis dahin sowohl gesellschaftlich als auch filmisch marginalisiert wurde.

Adaptierte er für seinen ersten Spielfilm „Sebastiane“ (1976) die Geschichte des christlichen Märtyrers Sebastian als offen homosexuelles Statement, bediente sich Jarman in „Edward II“ (1991) und „Wittgenstein“ (1992) historischer Figuren. Der Blick zurück war für ihn ein Weg, um der offiziellen, straighten Geschichtsschreibung die eigene Version entgegenzustellen, aber auch, um Antworten für die Gegenwart zu finden. Immer wieder überlagern sich in Jarmans Filmen die Zeiten, mischt er schon im Dekor vergangene und gegenwärtige Epochen. Die Reibung, die in dieser Bricollage der Zeiten, Räume und Kulturen entsteht, bewirkt Jarmans extrem antinaturalistischen Stil, der seine Werke nicht immer leicht zugänglich macht. Doch vielleicht sollte man sich Jarmans Filmen ohnehin nicht annähern, indem man sie verstehen will. Jenseits von Zeit und Raum liegt die Welt des Traums, in der auch die Sprache eher Klang als Sinn ist. Jarmans hat dies in „The Garden“ (1990) und in „The Angelic Conversation“ (1985), seiner filmischen Umsetzung von Shakespeares Sonetten, auf eindrucksvolle Weise veranschaulicht.

Zentral für Jarmans Filme ist seine Ausbildung – und sein lebenslanges Wirken – als Maler. 1942 in einem Vorort von London geboren, wuchs Jarman in einem bürgerlichen Haushalt auf. Sein Vater bestand auf einem „anständigen“ Ausbildungsgang; erst nach seinem Abschluss in Geschichte und Kunstgeschichte am King’s College konnte Derek Jarman mit dem Studium der Kunst an der Slade School in London beginnen. Zum Film kam Jarman einige Jahre später über verschiedene Arbeiten als Set-Designer für Ken Russell. Das Gespür für die Inszenierung von Räumen, für die Gestaltung eines Bildes sticht aus Jarmans Filmen hervor, deren Szenen oftmals wie Tafelbilder wirken. Ist „Blue“ eine Hommage an den französischen Maler Yves Klein, widmete Jarman einen seiner schönsten Filme Caravaggio. Mit dem Maler der italienischen Spätrenaissance fühlte sich Jarman seelenverwandt.

„Caravaggio arbeitete genau wie ich, indem er Menschen für seine Bilder verwendete, die er kannte, so dass seine Kunst untrennbar mit seinem Leben verwoben war.“ „Caravaggio“ (1986) ist Film und Malerei in einem. Modelle posieren, Menschen sind zum Tableau arrangiert – Film ist hier im wörtlichen Sinne eine Aneinanderreihung von Bildern. Im Stil und in der Farbgebung des Malers fängt Jarman den Moment ein, in dem die Zeit stillgestellt ist, in dem das Leben für einen kurzen, utopischen Augenblick Kunst wird.

Die Retrospektive im Arsenal wird in chronologischer Reihenfolge fast alle Langspielfilme Jarmans und eine große Auswahl an Kurzfilmen zeigen. Am Ende der Reihe wird „Blue“ zu sehen sein, das Requiem eines Filmemachers, der sein Leben lang auf der Suche nach Bildern war, die die Wirklichkeit nicht verstellen, sondern sie überhöhen. In ihrer Grausamkeit wie in ihrer Schönheit.

Info: www.fdk-berlin.de