Merkel in der Falle

Der Osten tickt anders. Trotzdem wäre ein Ostwahlkampf für die CDU-Kanzlerkandidatin verheerend. Die gelernte DDR-Bürgerin muss vor allem die Westdeutschen überzeugen

Angela Merkel kann nicht mit Gysi und Platzeck um ost-deutsche Emotionen konkurrieren

Der vorgezogene Bundestagswahlkampf tritt in seine entscheidende Phase. So sicher, wie es noch vor ein paar Wochen schien, ist der schwarz-gelbe Wahlsieg längst nicht mehr, die beiden politischen Lager liegen fast gleichauf. Unweigerlich rückte deshalb ein Wahlgebiet in den Blickpunkt, das den Ausgang aller Bundestagswahlen seit 1990 geprägt hat: Ostdeutschland. Der Einheitskanzler Helmut Kohl gewann hier 1990 und 1994 seine entscheidenden Stimmen, Gerhard Schröder verdankte den Ostdeutschen 1998 den Wahlsieg, vor allem aber 2002 seine Wiederwahl. Denn während die SPD vor drei Jahren im Westen Stimmen verlor, konnte sie im Osten dank Flut und Antikriegswahlkampf 4,6 Prozentpunkte zulegen. Zudem flog die Ostpartei PDS aus dem Bundestag, was Rot-Grün eine knappe Mehrheit sicherte. Auch am 18. September wird es deshalb wieder heißen: Der Osten entscheidet die Wahl.

Natürlich gibt es überall in Deutschland regionale Identitäten, die sich bei Wahlen manifestieren. Doch nichts ist politisch so virulent wie der Ost-West-Konflikt. Deutschland ist auch im Jahr fünfzehn der deutschen Einheit weiterhin mental, politisch und ökonomisch gespalten. Der Osten tickt anders, lebt anders, wählt anders. Es existieren zwei Teilgesellschaften, mit unterschiedlichen Werten und zwei Parteiensystemen, die sich grundlegend unterscheiden. Die Mehrheit der Ostdeutschen bewertet soziale Gerechtigkeit höher als Freiheit. Nicht einmal die Hälfte der Ostdeutschen sieht die Marktwirtschaft überwiegend positiv. Stattdessen plädiert dort eine Mehrheit für mehr staatliche Regulierung. Zwei Drittel aller Ostdeutschen fühlen sich im vereinten Deutschland als Bürger zweiter Klasse, ökonomisch abgekoppelt und ohne Perspektive.

Der Ostfrust ist leicht mobilisierbar. Als im vergangenen Sommer die Ostdeutschen zu zehntausenden auf die Straße gingen, um gegen Hartz IV zu demonstrieren, war dies mehr als ein Protest gegen eine als unsozial empfundene Arbeitsmarktreform. Es war der verzweifelte Protest von Menschen, die sich abgeschrieben fühlten. Die PDS profitierte bei den Landtagswahlen des vergangenen Herbstes davon, aber auch die rechtsextremen Parteien NPD und DVU verdanken dieser Stimmung den Einzug in die Landtage von Sachsen und Brandenburg.

Mit der Ostidentität sind im Westen die Ressentiments gewachsen. Wiedervereinigungsrhetorik und Einheitseuphorie sind auch dort allenfalls noch etwas für Sonntagsreden. Unter den Westdeutschen gibt es mittlerweile ein großes Unverständnis über die Jammerossis. Neidisch blicken die Wessis auf die ausgebauten ostdeutschen Autobahnen, wütend auf die Subventionsruinen.

Es gehörte zu den großen Verdiensten der Volksparteien, die prägenden Konflikte der Weimarer Republik, die Konflikte zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Stadt und Land und zwischen Kirche und Staat integriert zu haben. Nach der Wiedervereinigung jedoch haben SPD und CDU versagt. Viel zu lange haben sich beide darauf verlassen, dass die innere Einheit innerhalb einer Generation vollendet werden kann und die PDS ein Auslaufmodell ist. Dabei ist Ostidentität längst mehr als ein Transformationsphänomen. Sie ist mehr als eine Spätfolge des realen Sozialismus; sie wird genauso aus den Erfahrungen der letzten fünfzehn Jahre gespeist, von falschen Versprechungen, enttäuschten Erwartungen sowie der westdeutschen Dominanz in Politik, Medien und in den gesellschaftlichen Eliten.

Nur Ignoranten kann deshalb der mögliche Wahlerfolg der in Linkspartei umbenannten PDS im Osten überraschen. Schon bei den Landtagswahlen in Brandenburg vor zehn Monaten wurde die PDS beinahe zu stärksten Partei, in Sachsen und Thüringen hat die PDS die SPD längst klar hinter sich gelassen. Die PDS ist im Osten eine feste politische Größe und an zwei Landesregierungen beteiligt. Sie ist beides: Volkspartei und Protestpartei. Sie wird von einer treuen Stammwählerschaft trotz einer schmerzhaften Sparpolitik der rot-roten Landesregierungen weiter unterstützt. Gleichzeitig wird sie von einer zunehmenden Zahl von desillusionierten Ostdeutschen gewählt. Diese fühlen sich von Kohl genauso verraten wie von Schröder. SPD und CDU sind für sie gleichermaßen Westparteien, denen sie nicht mehr über den Weg trauen, und sie haben keine Probleme, mal rechts und mal links Protest wählen.

Je knapper der Wahlausgang am 18. September zu werden scheint, desto mehr kommt es auf den Osten an. Im Westen nimmt die Linkspartei fast ausschließlich der SPD Stimmen weg, im Osten hingegen gibt es sehr viel weniger Stamm- und viel mehr Wechselwähler, auch erhebliche Verschiebungen zwischen den politischen Lagern sind möglich. Die Nervosität bei der CDU ist deshalb groß. Schließlich könnte der Osten dem bürgerlichen Lager die Mehrheit im nächsten Bundestag kosten und die Union in die große Koalition zwingen.

Doch nur für einen kurzen Moment erlag die CDU deshalb der Versuchung, mit einem speziellen Ostwahlkampf, einem besonderen Ostdiskurs über soziale Gerechtigkeit und einem Ossi-Profil für die Kanzlerkandidatin Angela Merkel die entscheidenden Stimmen zu sichern. Das wäre schief gegangen, denn Angela Merkel hat nicht nur im Osten ein Problem, sondern auch im Westen. Helmut Kohl und Gerhard Schröder konnten als Wessis den Osten generös zu Chefsache erklären. Angela Merkel kann dies nicht. Sie muss westdeutscher auftreten als jeder westdeutsche Kanzlerkandidat. Nur weil sie ihre Ostherkunft vollständig abgestreift hat, konnte sie in der durch und durch westdeutsch geprägten CDU zur Vorsitzenden und Kanzlerkandidatin aufsteigen. Im Wahlkampf muss Merkel nun im Westen im bürgerlichen Lager Vertrauen und Wähler gewinnen. Die Vorbehalte gegen die Kanzlerkandidatin mit DDR-Sozialisation sind dort immer noch groß.

In Ost und Westherrschen unterschiedliche Werte und Parteiensysteme

Jeder spezielle Ostwahlkampf würde die Mobilisierung der CDU-Stammwähler im Westen gefährden. Verspricht Angela Merkel zusätzliche Osthilfen, fühlen sich die Westdeutschen benachteiligt, äußert sie Verständnis für die ostdeutsche Sehnsucht nach mehr Gerechtigkeit und mehr Staat, versteht das westdeutsche Bürgertum Sozialismus. Redet sie über die DDR, über ihr Leben zwischen junger Gemeinde und FDJ, zwischen Nische und Anpassung, erntet sie im Westen nur verständnisloses Kopfschütteln.

Angela Merkel kann nicht mit Gysi und Platzeck um ostdeutsche Emotionen konkurrieren. Merkel sitzt vielmehr in der Ost-West-Falle. So paradox es klingen mag, sie kann die Bundestagswahlen für das bürgerliche Lager nur gewinnen, wenn sie ihre ostdeutsche Herkunft leugnet. Alle Hoffnungen, eine Kanzlerin, die offensiv damit umgeht, könne Ost und West einander wieder näher bringen, sind Wunschträume. Die CDU muss die Bundestagswahlen im Osten gewinnen, aber Angela Merkel kann ihr dabei nicht helfen. CHRISTOPH SEILS