berliner szenen
: Tauben sind sehr soziale Tiere

Sie hing da stundenlang“, sagt M. „So verzweifelt, hilflos. Man musste immer wieder hinschauen. Der Blick in den Hinterhof gehört ja auch zum Alltag.“ M. schluckt betroffen.

Sie hebt ihr Glas mit dem selbst gebrauten sauscharfen Ginger Beer. Setzt an, stellt es wieder hin. „Und dann habe ich gegoogelt. Wusstest du, dass das total soziale Tiere sind? Als ich das gelesen habe, konnte ich mich plötzlich richtig mit ihr identifizieren und sie auf keinen Fall sterben lassen.“

Ich schaue sie gebannt an, fühle mich wie ein Enkel-Bärchen von Käpt’n Blaubär: „Ja und dann? Erzähl weiter. Was ist dann mit der kleinen Taube passiert?“ M. zieht dramatisch hörbar Luft ein. „Nachdem meine Nachbarin und ich sie nicht befreien konnten, haben wir die Feuerwehr gerufen. Es gab keine andere Möglichkeit.“

Kreuzberger Hinterhofgeschichten. Ein riesiges Netz zur Taubenabwehr ist zur Taubentodesfalle geworden. Aber nach bereits einem tragischen Todesfall in der letzten Woche, tagelangem Verwesungsprozess als Fensterkino, hat M. dieses Mal gehandelt. Heldinnenhaft hat sie die runterfallende Taube nach der Feuerwehrbefreiung – „Kommen wir echt für die Rettung einer Ratte der Lüfte?“ – mit einem Tuch aufgefangen.

Jetzt sitzt sie in der Küche und wischt durch die Fotos, die ihre Geschichte illustrieren. Pics or it didn’t happen. Eine Taube kopfüber im Netz, eine Taube mit etwas Band um den Kopf in ihrer Badewanne, das Happy-End der wegfliegenden Taube.

Ich bin berührt und stimme M. zu: Alles andere wäre unterlassene Hilfeleistung gewesen.

Beim Joggen am nächsten Tag ducke ich mich wie so oft wegen einer verplant hochfliegenden Taube. Dieses Mal ist da kein Groll in mir. Tauben sind total soziale Tiere. Wusstest du das schon?

Linda Gerner