: Auf den Mensch gekommen
Unser Umgang mit Tieren spiegelt das Verhältnis von Kultur und Natur: Manchmal machen Kunst, Bühne und Literatur es als leidvoll erfahrbar. Nicht minder häufig aber schreiben sie es rücksichtslos als Affentheater fort
Von Jens Fischer
Mensch und Tier – die große Gemeinschaft. Beste Freunde, gar Lebenspartnerschaft. Aber es ist ein Missverständnis zu glauben, dem liege eine Ethik zur wechselseitigen Entfaltung von allem, was kreucht und fleucht, zugrunde. Sein Tier daheim mag man beispielsweise noch so hätscheln und verwöhnen, eine auf Augenhöhe beidseitig beglückende Beziehung wird nicht Ereignis. Trotz bester Ausgangsposition. Mensch und Tier sind schließlich aus demselben Material geschöpft. Bestehen zu zwei Dritteln aus Wasser, ein Viertel machen Proteine und Fette aus. Mit dem Affen als nächstem Verwandten ist auch der Mensch: ein Tier. Teil der Natur. Streitet mit allen anderen Lebewesen um dieselben Ressourcen, gehört selbst zu diesen Ressourcen.
Logisch, dass sich Kultur mit ihnen befasst. Dass sie auf Bühnen gestellt werden, sie erobern, Menschen die Show stehlen, als das Andere des Theaters, seiner Formen und seiner Regeln: In Heinrich von Kleists Prosa treten deshalb auf der Schauspieler Herr Unzelmann, dem die Direktion das Improvisieren verboten hat, und dessen Pferd, das einfach weiter verdaut. Als das aber „inmitten der Bretter, zur großen Bestürzung des Publikums, Mist fallen ließ: wandte er sich plötzlich, indem er die Rede unterbrach, zu dem Pferde und sprach: ‚Hat dir die Direktion nicht verboten, zu improvisieren?‘ – Worüber selbst die Direktion, wie man versichert, gelacht haben soll“. So heißt es in einer „Korrespondenznachricht“, entstanden irgendwann zwischen 1808 und 1811 – kurz nachdem der verhasste Napoleon derartige Kreatürlichkeit im Schauspiel gesetzlich untersagt hatte.
Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier ist eben kein herrschaftsfreies. Mögen die Früchte- und Beerensammler*innen und ihre Jägergatt*innen der Urzeit noch ein philosophisches Bewusstsein ihrer Seelenverwandtschaft mit den Tieren gehabt haben. Bald merkten unsere Ahnen aber wohl, von ihrer physischen Ausstattung her zum evolutionären Überleben schlecht gerüstet zu sein. Der Angst und dem Minderwertigkeitskomplex wurde mit einer monarchistischen Anwandlung begegnet und sich flink selbst die Krone der Schöpfung aufgesetzt. Neues Selbstverständnis: nicht mehr länger Lebensmittel anderer Tiere sein, sondern sich zur Erhaltung der eigenen Art zum Herrscher über sie aufschwingen. Mit Werkzeugen. Mit Kultur.
Als unsere Vorfahren sesshaft werden vor etwa 10.000 Jahren, kultivieren sie Pflanzen und Tiere. Diese dienen als Nahrungsquelle, helfen bei der Feldarbeit und Kriegsführung, transportieren Waren, bewachen Hab und Gut – betätigen sich damit ungefragt als Kulturstifter der Menschheit. Die mit der Nutztierhaltung der natürlichen Selektion ein Schnippchen geschlagen hat. Seither scheint Pi mal Daumen zu gelten: je mächtiger der Mensch, desto seelenloser Natur und Tier. Sie werden nicht mehr als Mitwelt wahrgenommen, sondern als Gegenstände. Der Theologe Thomas von Aquin konstatierte im 13. Jahrhundert: „Die Seele des Tieres ist der Unsterblichkeit nicht teilhaftig, weil sie der Vernunft nicht teilhaftig ist.“
Die humane Vernunftseele glorifizierte Descartes 400 Jahre später gegenüber den Tieren, die für ihn „seelenlose Automaten“ waren. In diesem Mensch-Tier-Dualismus sind Menschen als rationale Wesen absolute Herrscher und alle anderen tierischen Individuen auf Instinkte reduziert – also das, was der Mensch durch Geist, Sprache, Willen überwinden will. Nur mit dieser Abwertung scheint auch heute noch die industrielle Fleischproduktion wie auch die Qual vieler Versuchstiere oder die Abrichtung von Haustieren zu ertragen sein.
Denn dass sich der Mensch im Laufe der Jahrhunderte dem Tier als Kumpel wieder annäherte und ökonomisch nutzlose Exemplare bei sich einquartierte, ist genauso wenig ein Projekt in Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wie jede andere Nutzbarmachung. Schlachtvieh wird zur menschlichen Ernährung benötigt, Labormäuse existieren für die menschliche Forschung, Haustiere stillen psychosoziale Bedürfnisse.
Damit Wildtiere zum Hausgebrauch taugen, wurden sie entsprechend gezüchtet. Genommen wurde ihnen dabei die Würde ihres Wesens. Nur so können sie sich ausbeuten lassen und ein entfremdetes Dasein bei freier Kost und Logis verdämmern, kuschelige Stubenhocker mit unterwürfigem Kinderblick. Verhaltensforscher wissen, auf kleinkindtypische Merkmale reagieren Menschen besonders positiv, weil sie darauf programmiert sind, sich um den Nachwuchs zu kümmern. Damit Menschen gegenüber Tieren das Machtgefühl spüren, gebraucht zu werden, und das als Freundschaft interpretieren können, sind vor allem hunde- und katzenartige Tiere entsprechend designt worden. All die seit Jahrhunderten dafür erfolgten Zurichtungen sind nichts anderes als Tierquälerei.
Schon in coronalosen Zeiten war es so, dass immer mehr Menschen nicht mehr den Mut hatten, in die Anstrengung zu investieren, sich auf ihresgleichen einzulassen – und lieber mit Tieren zusammenziehen. Jährlich steigt ihre Zahl in deutschen Wohnungen: von 2016 auf 2018 um fast zehn Prozent auf etwa 34,4 Millionen Hunde, Katzen, Kleinsäuger und Ziervögel – plus jede Menge Zierfische und Terrarientiere. Insgesamt wohnen 9,4 Millionen Hunde und 14,8 Millionen Miezen in hiesigen Haushalten.
In der Kunst dürfen Tiere meist ebenfalls nicht sie selbst sein. Fungieren vor allem als Symbole. Jesus Christus, der alte Fisch, die Schlange steht für Verführung, Fuchs für Schlauheit. Es gibt Romane, in denen Tiere ihrer eigenen Natur frönen dürfen. Häufig aber werden sie anthropomorph dargestellt. Musterbeispiele dafür sind auch Disneyfilme, in denen die lustigen Vierbeiner ja keine Tiere, sondern Menschen in Tiergestalt sind.
Thomas von Aquin, Kirchenvater
Aber nie wird jemand wissen, ob und wenn ja, was es bewusst denkt. Erkenntnistheoretisch wäre das nur möglich, wenn man selbst das Tier ist, in seinem Hirn steckt. Ein Haustierbesitzer interpretiert das Verhalten seines Lieblings also stets unabhängig von der wahren Absicht des Tieres und enthüllt seine eigenen sozialen Sehnsüchte in jeder Aussage darüber, was Tieren gerade im Kopf herumgeht, was sie fühlen, was sie wollen. Nur so funktionieren sie als Lebenspartner, indem sie vermenschlicht werden. Eine Degradierung ihrer Natur.
Im Theater sind Tiere nur noch selten zu sehen. Nicht weil sie zu viel Aufmerksamkeit auf sich zögen, sondern weil die Tierschutzbestimmungen strenger geworden sind. Natürlich ist ein Auftritt in Scheinwerferlicht, Nebel, Musikwolken und mit all den Mimen – befremdlich. Eine Kuh sondert da schon mal Fladen ab, Pferde lassen ihre Äpfel rollen, Hunde bellen, Hähne entflattern gackernd – ein Hauch beherrschbarer Freiheit. Denn die tierischen Wesen werden wieder eingefangen, ihre Hinterlassenschaften gereinigt. Man lacht darüber. Zum Konterkarieren dieses Machtgefühls lassen Regisseure gern mal frei laufende Hunde oder Hühner auftreten, sozusagen als wohlkalkuliert-anarchisches Element der Performance.
Seit der Uraufführung von Giuseppe Verdis Oper „Aida“ vor 120 Jahren mit 15 Kamelen und zwölf Elefanten gibt es die Tradition, vor allem Open-Air-Inszenierungen mit Tieren zu schmücken. In Schwerin triumph-marschierte noch 2016 ein Elefant mit. Bei den Karl-May-Festspielen gehören Pferde seit je zu den Hauptdarstellern und in so anmutiger wie massiver Präsenz war ein Wallach während des letztjährigen Theaterformen-Festivals im Schauspielhaus Hannover zu sehen. Ganz bei sich sollte das Pferd wirken, ungesattelt und ohne Zaumzeug. Amazone Laetitia Dosch argumentierte in ihrem Mensch-Tier-Pas-de-deux „Hate“ für Liebe und eine Gesellschaft, in der Frauen und Tiere nicht mehr auf den Rang eines Objekts reduziert werden.
Sie sollen Komplizen sein, egalitär miteinander umgehen. Hat zwar nicht so ganz geklappt, war aber endlich mal eine moralisch reflektierte Tier-auf-der-Bühne-Idee. Sind doch die Koexistenz von Mensch, Tier und Natur, die Pflege der Verwandtschaft der Arten und die Renaturierung der Welt unerlässlich fürs Leben auf dem blauen Planeten. Auf dem der Mensch, erdgeschichtlich gesehen, keineswegs die Krone der Schöpfung, sondern eine Eintagsfliege ist.
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