Das Prinzip Frachtwaggon

In ihrem starken Debütroman „ewig her und gar nicht wahr“ erzählt Marina Frenk in großen Sprüngen vor und zurück von Flucht und Migration, Fehlgeburten und Beziehungsalltag

Im Lada flieht die Erzählerin Anfang der Neunziger aus Moldau ins Ruhrgebiet. Von da an wird sie stets mit dem Schlimmsten rechnen Foto: Laetitia Vancon/NYT/Redux/laif

Von Eva Behrendt

Ein Familientreffen im Frachtwaggon, unterwegs ins Ungewisse. Die Erzählerin Kira Libermann, eine bildende Künstlerin aus dem Berlin der Gegenwart, wiegt ihren winzigen Sohn auf dem Arm und bewegt ihre eiskalten Zehen in viel zu sommerlichen Sandalen. Mit an Bord sind ihre Eltern und Großeltern: die russischen mütterlicherseits, die jüdischen väterlicherseits; Großvater Jurij sitzt mit seinen Kameraden der Roten Armee zusammen. Aber auch Marc, der Vater des Säuglings, fährt mit („Hatte ich denn eine Wahl?“), samt SS-Opa und Alkoholikervater.

Fast alle sind jünger und deutlich lebendiger, als es Kiras Erzählrealität entsprechen würde. Und auch sie selbst hat noch einen weiteren Auftritt als kleines Mädchen, das inmitten von Soldaten und Deportierten plötzlich wild zu tanzen und zu singen beginnt. Eine Horrorfantasie, ein Wunschtraum oder beides zusammen?

Ähnlich wie in diesem Frachtwaggon drängeln sich Personen, Zeitebenen und Geschichten in Marina Frenks starkem Debüt „ewig her und gar nicht wahr“. Die Autorin, geboren 1986 in Chisinau (Moldau), ist bislang vor allem als Schauspielerin und Musikerin am Berliner Maxim Gorki Theater in Erscheinung getreten, jener Bühne, die wie keine andere den autobiografischen Zugang zu Rollen und Performance kultiviert und um die Schriftstellerin Sasha Ma­rian­na Salzmann herum einen regelrechten Autor*innenpool hervorgebracht hat. Inzwischen arbeitet sie frei.

Auch Protagonistin Kira hat trotz einiger Verschiebungen viele biografische Ähnlichkeiten mit Marina Frenk. Sie ist Künstlerin, war fünf Jahre erfolgreich als Malerin, doch jetzt, wo sie Mutter geworden ist, gibt sie Malkurse für Kinder. Sie misstraut ihrem Freund Marc, der als Journalist an der Uni unterrichtet und auch nicht ganz froh ist in seiner Haut. Sie argwöhnt Betrug, verstrickt sich in seiner ausweichenden Verschlossenheit. In einem imaginierten Zweikampf nennt er sie „Scheißhexe“ und „osteuropäisches Biest“, sie kontert: „Du nervtötender Halbintellektueller, du kannst dir dein Scheißeuropa in den Arsch schieben.“

Marina Frenk: „ewig her und gar nicht wahr“. Wagenbach, Berlin 2020. 240 Seiten, 22 Euro

Diese labile Situation – kleines Kind, Karrierepause, Beziehungskrise – bildet die Basis des Romans, eine Basis ohne festen Grund, weil Kira sich in ihr abhandenkommt. Mit durchaus heftigen Symptomen: Sie drückt brennende Zigaretten auf ihrem Körper aus, um „zu spüren, wo ich aufhöre“.

Wo verlaufen die Grenzen? Zwischen Körpern, Ländern, Traum und Wirklichkeit? „ewig her und gar nicht wahr“ besteht aus 36 Kapiteln. Kursiv gedruckte Zeit- und Ortsangaben verleihen spärliche Orientierung in einer Lebens- und Familiengeschichte, die nicht fein säuberlich linear, sondern in großen Sprüngen vor und zurück erzählt wird.

Ob Großvater Aaron 1941 als Zehnjähriger aus Capresti in Bessarabien in eine ungewisse Zukunft aufbricht und dabei Hund und Großmutter zurücklässt oder Kira ihrer Freundin Nele bei der Geburt ihres Kindes assistiert, ob Kira mit ihren Eltern Anfang der 1990er Jahre im Lada aus Moldau vor dem russenfeindlichem Umschwung in Richtung Ruhrgebiet flieht, eine Fehlgeburt hat oder mit Söhnchen Karl liebevoll über den Tod spricht: Jedes Mal setzt der Roman neu und frisch im Präsens an, allenfalls lose verbunden durch eine Emotion oder ein Motiv. Das Prinzip Frachtwaggon, übersetzt in eine Erzählstruktur.

Hinzu kommt eine poetische Strategie, die Frenks literarisches Alter Ego gleich zu Anfang in einem Prolog einführt. Verlorengegangen am übervollen Strand am Schwarzen Meer, zieht sich die fünfjährige Kira in sich selbst zurück, ausnahmsweise im Imperfekt: „Also schloss ich meinen Blick bei offenen Augen und schaute nach innen. Es war düster in mir und schimmerte zwischendurch bordeauxrot, der Ort erinnerte mich an die Zeit im Bauch meiner Mutter und irgendwie auch an das Meer unter der Wasseroberfläche. Ich habe Angst vorm Tauchen, aber mir blieb keine andere Wahl.“ Und als ihre Mutter sie wiedergefunden und ausgeschimpft hat: „Verloren gehen fühlt sich einsam an, aber auch interessant.“

„Es war düster in mir und schimmerte zwischendurch bordeauxrot“

Aus: „ewig her und gar nicht wahr“

Das Abtauchen als Überlebensstrategie ermöglicht es Kira, auch die Dinge zu durchleben, die die Realität ihr, die mit dem Schlimmsten nur rechnet, erspart hat. Mit dem Körper noch bei einem Treffen mit Freunden und Kindern, gleitet Kira zurück nach Capresti zu Ururoma Bina, die von zwei Rumänen erschossen wird, malt sich aus, wie Aarons kleiner Hund Schmulik als Einziger übrig bleibt. „Er gräbt sich mit seinem kleinen Hundekopf in Binas Haar, legt sich in die dunkelrote Lache und stellt sich ebenfalls tot. Es ist absolut still geworden. So eine Art von Stille kann ich mir nicht vorstellen, Manuels und Karls Stimmen stören mich dabei. Sie freuen sich.“ Die Rückkehr in den Alltag hat auch ihre komischen Seiten.

Ein andermal entladen sich die Spannungen mit dem Täter­enkel Marc in einer fantasierten Schlacht am Strand von Hiddensee; sie beißt ihm ein Stück Ohr ab, er tritt ihr in den Unterleib. Und während Nele in den Wehen keucht und Kira ihre Hand hält, läuft ein kleiner weißer Königstiger lächelnd durch den Kreißsaal. „Müsstest du nicht in Indien sein?“, fragt ihn Kira und hängt wenige Minuten später kotzend über der Kloschüssel, eingeholt vom Trauma der Fehlgeburt, die sie damals versucht hat mit eigenen Fingern wieder in sich hineinzustopfen. In Familien mit vielen Toten muss der Tod besonders erbittert bekämpft werden, und sei es durch das leibhaftige Erscheinen auf der eigenen Beerdigung.

Nur eines nimmt man dieser Kira nicht so ganz ab, und das ist ihre Kunst. In ihrem Dachbodenatelier malt sie Familienporträts, später auch ihre Narben – doch obwohl Kiras Tauchgänge bildhaft sind, bleibt ihre Struktur genuin narrativ. Wie sich das in Malerei übersetzt, bleibt vage. „Schwerer werden, leichter sein“ – dieser Satz von Paul Celan ist dem Buch als Motto vorangestellt und prägt auch tatsächlich Marina Frenks Erzählen, das in einem Moment erbarmungslos und bitter, im nächsten wieder zärtlich, flink und komisch ist. Deshalb strebt der Roman auch keiner Erlösung entgegen: Sich auf beide Zustände immer wieder neu einzulassen, ist das maximal Mögliche.