brief des tages
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Neues Virus – alte Miseren

„Telefonseelsorgerin über Coronafolgen: ‚Was ist, wenn ich sterbe?‘“, taz vom 20. 4. 20

Das Interview mit der ehrenamtlichen Telefonseelsorgerin macht deutlich, was generell für Krisenzeiten gilt: Sie bringen wenige neue Phänomene im gesellschaftlichen Leben hervor; vielmehr rücken sie bestehende Probleme deutlich ins Bewusstsein. Suizidale Äußerungen und Einsamkeit sind klassische Themen der Telefonseelsorge; sie verstärken sich in diesen Zeiten. Gleiches gilt für andere Miseren. Seit Langem ist bekannt und wird gefordert, dass Schultoiletten an vielen Orten dringend zu sanieren sind. Auf einmal könnte dies nun die Wiederaufnahme des Schulbetriebs behindern. Dass es in der Republik an Frauenhäusern und deren Unterstützung mangelt, wurde immer wieder angemahnt. Nun, da in Coronazeiten häusliche Gewalt vermehrt um sich greift, wird auch an dieser Stelle offenbar, was lange geleugnet oder als zweitrangig erachtet wurde. Unangenehme Themen, die unter den Teppich verbannt wurden, werden plötzlich zu Stolperfallen. Dank dieser Zeitung treten all diese Themen alltäglich ans Licht und werden ins rechte Verhältnis von Ursache und Wirkung gesetzt – auch ohne Covid-19.

Bernd Nagel, Frankfurt am Main