PEKINGER HERBSTABEND
: Die Tage um den 7. Oktober hätten blutig enden können

In meinem Tagebuch steht über diesen Abend: „Lass kein Unglück geschehen“

VON ANJA MEIER

Ausgehen ist gefährlich in diesen Tagen. Vor meiner Haustür stehen neuerdings Militärlastwagen. Darauf hocken Polizisten und NVA-Soldaten dichtgedrängt, im Schein des orangefarbenen Lichts der Straßenlaterne erkenne ich Waffen, Schilde, Helme. Keiner von den Männern spricht, aber wenn ich mein Fenster im ersten Stock der Rheinsberger Straße öffne, höre ich, wie diese schwer bewaffnete Schar atmet, wie sie abwartet und scharrt. Nachts schiebe ich die Kohlenkiste vor meine Wohnungstür, ich habe kein Telefon, ich habe Angst.

So war das. Noch heute, 20 Jahre später, spüre ich die Furcht, die ich damals hatte. Ich weiß: Die Tage um den 7. Oktober hätten blutig enden können. Ich hatte ihre Waffen gesehen, in meiner ruhigen Straße, der letzten vor der Mauer, standen sie bereit, loszuschlagen. Aus Ostberlin hätte ein zweites Peking werden können. Dort hatte im Juni 1989 die chinesische Regierung protestierende Studenten niederschießen lassen. Ich war für den Abend des 7. Oktober zu einer Atelierparty eingeladen. Im Palast der Republik tanzte Erich Honecker mit seiner Margot, wir waren in der Hochparterrewohnung eines Malers verabredet. Jeder Gast sollte etwas Schwarzes, Rotes oder Gelbes zum Essen mitbringen. Aus heutiger Sicht eine typische Ostberliner, gleichwohl mäßig mutige Art, die politischen Zustände zu ironisieren – mit den Flaggenfarben des Arbeiter-und-Bauern-Staates spielte man nicht. Schon gar nicht aß man sie auf.

Am Abend des 7. Oktober balancierte ich also meine Kreation aus Roter Grütze und Vanille- und Schokopudding die paar 100 Meter Richtung Oderberger Straße. Links verlief die Mauer, davor standen Stoßstange an Stoßstange die sprungbereiten Polizeieinheiten. Sie würden an diesem Abend noch losgelassen.

Mitten in unsere Atelierfeier platzten gegen 21.30 Uhr Leute. Sie kamen von der Gethsemanekirche, wo Polizei und Stasi tausende Menschen eingekesselt hatte. Die Meute hatte ihren Platz verlassen und zugeschlagen. Demonstranten, Mutigere als ich, waren in die Hinterhöfe getrieben und verprügelt worden. Eltern wurden vor den Augen ihrer Kinder verhaftet und abgeführt.

Dass im Polizei„gewahrsam“ 500 Menschen von Volkspolizisten und Stasimitarbeitern gedemütigt und eingeschüchtert wurden, sollte ich erst später erfahren. In meinem Tagebuch steht über diesen Abend: „Lass kein Unglück geschehen! Eine schlimme Stimmung in der Stadt, während die Großväter feiern, als wäre nichts.“ Es war die Angst vor Peking. Der 40. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik war der letzte. Es war ein diesiger Herbstsamstag, an dem nicht viel gefehlt hätte, dass geschossen wird.

Am nächsten Morgen standen sie wieder vor meiner Haustür, die Militärlaster, die Uniformierten mit ihren Helmen und Schilden. Ich wollte nur noch weg, machte mich auf zu meinen Eltern, die am Stadtrand wohnten. Am S-Bahnhof Schönhauser Allee fehlten Steine im Pflaster. Es waren gefährliche Tage.