Mit radikaler Erzählwut

Hilary Mantel beendet ihre große historische Roman­trilogie über Thomas Cromwell

Männliche Herrschaft kann sich nur mithilfe weiblicher Körper halten

Von Marlen Hobrack

Jede Geschichte endet. Auch diese. Cromwell wird sterben. Vorher aber werden wir etwas mehr als 1.100 Seiten über den Sohn eines Schmiedes lesen, der unter Heinrich dem VIII. zum zweiten Mann im englischen Staat aufsteigt. „Spiegel und Licht“, so heißt der dritte Roman Hilary Mantels aus ihrer nun dreibändigen Cromwell-Reihe.

Ein Problem des historischen Romans ist, dass seine Fakten bekannt sind. Keine Option für einen überraschenden Plot-Twist. Daher lebt dieses Genre davon, historischen Figuren Leben einzuhauchen. Das ist die Kernkompetenz der vielfach preisgekrönten Schriftstellerin Hilary Mantel, nur eine von drei Autorinnen, die den prestigeträchtigen Booker Prize zweimal gewann. Warum sie ausgerechnet Thomas Cromwell eine umfangreiche Romantrilogie widmet? Vielleicht, weil etwas von ihm auch in ihr steckt: dem Mädchen aus einfachsten Verhältnissen, das Rechtswissenschaften studierte und von der Queen zur Dame Commander ernannt wurde.

Der Roman setzt ein mit der Hinrichtung Annes, der zweiten Frau Heinrichs, der wie im englischen Original hier „Henry“ heißt (die gelungene Übersetzung stammt von Werner Löcher-Lawrence).

Der Kopf der Königin ist ab. Ihr Ersatz, die von Mantel in ihrer geistigen Schlichtheit hinreißend gezeichnete Jane Seymour, steht schon bereit. Auf ein Neues! Vielleicht erzeugt diese Ehe endlich den gewünschten männlichen Thronerben. Denn männliche Herrschaft, das ist seit jeher ihre quälende Krux, kann sich nur mithilfe der Körper der Frauen fortzeugen. Wehe, wenn die sich verweigern!

Die nächsten tausend Seiten handeln von Ränkespielen, die buchstäblich nur dem einen Ziel dienen: Macht zu sichern. Die Macht Henrys, die Macht der Höflinge, zuletzt die Cromwells, der über die erfolgreiche Hinrichtung der Königin, ihr Leib ist noch nicht ganz kalt, noch einmal befördert wird, nun zum Lordsiegelbewahrer. Der Aufstieg des Juristen, der einmal Tuchhändler war, und den Stern bedeutender Männer wie Kardinal Wolsey und Thomas Moore hat steigen und fallen sehen (fallen ließ!), er hat seinen Höhepunkt erreicht. Von nun an treibt alles dem Abgrund entgegen.

Darin liegt der Reiz dieses Romans: dass der, der so lange Gewinner war, Verlierer bestimmte, unweigerlich auf die totale Niederlage zusteuert. Und dass wir es jetzt schon wissen. Die Akteure der Geschichte aber „stecken in der Gegenwart fest“, wie es im Text Lady Montague bemerkt.

Hilary Mantel transformiert die Form des Romans, indem sie ihn radikal zum Dialogbuch zuspitzt, einen Reigen aus Tableaux vivants, in denen Menschen vor allem eines tun: reden. Wie schafft sie es, dass jeder dieser Dialoge dem historischen Personal wie abgelauscht wirkt? Die Autorin hat Tausende und Abertausende Quellen studieren müssen, um diese Informationsdichte zu erzeugen, und doch lebt ihr Text gerade von dem, worüber die Quellen schweigen.

Eine Schlüsselstelle des Romans zielt genau darauf: So heißt es, dass die Chronisten die Reden wiedergeben können, aber nicht, „wie das Gesicht des Königs rot anlief, als er durch den Raum lief und sie [Mary] in den Arm nahm, […] sein Keuchen, sein Schluchzen, seine bebenden Koseworte und die heißen Tränen, die ihm aus den Augen quellen“. Dinge also, die für den Lauf der Geschichte unwichtig sind, nicht aber für das Verständnis der Menschen, die Geschichte machen.

Übrigens erscheinen diese Worte nicht zufällig in einem für Hilary Mantel untypischen Duktus. In dem Pathos erinnern sie an den klassischen Historienroman, der versuchte, die gefühlsmäßigen Leerstellen mit allerhand Gemütsaufwallung auszuschmücken.

Man spürt, dass Mantel im Vergleich zu den ersten beiden Teilen der Trilogie wenig Geschehen erzählen möchte, ihr Fokus sich auf etwas anderes richtet. Mantel ist eine grandiose Erzählerin komplexester historischer Ereignisse, wie es ihr Roman „Brüder“ zeigt, der die Geschehnisse der Französischen Revolution beleuchtet. Darin dehnt und rafft sie Zeit nach Belieben. Nach der minutiösen Schilderung eines Dialogs springt der Text im nächsten Absatz zwei Jahre weiter, durch nichts weiter angekündigt als die Worte:„Wir sind im Jahr …“

„Spiegel und Licht“ dagegen schlägt sich ganz auf die Seite der Zeitdehnung, bis an die Grenze des Lesbaren getrieben. Das erschöpft. Nur darf man annehmen, dass das kein erzählerischer Unfall ist. Mantel will Geschichte auserzählen, das Erzählen an seine Grenze führen. Sie offenbart eine radikale Erzählwut, die den historischen Moment nicht mehr für vernachlässigbar hält. Erzählte Zeit wird zu Erzählzeit. Und der Roman zur Reflexion darüber, wie wir mit der Geschichte verfahren.

Henry ist deswegen so interessant für Mantel, weil er etwas für Menschen Ungeheuerliches wagt: Er lässt sich nicht scheiden von Katharina von Aragon und Anne Boleyn, vielmehr erklärt er (mithilfe von Cromwells teufelsadvokatischen Winkelzügen), es habe die Ehen, jedenfalls als rechtmäßigen Kontrakt, niemals gegeben. Das ist wahrhaftige Macht: Sie kann die Vergangenheit ungeschehen machen. Eine Zeit lang.

Denn es ergibt sich ein erbrechtliches Paradox. Die geborenen Töchter existieren, und existieren doch nicht. Jedenfalls als Erbinnen. Sozusagen Schrö­dingers Erbinnen, die deshalb ständig durch die Dialoge am Hof geistern.

Wie mit den Töchtern verfahren, die es nicht geben darf? Auch ihre Mütter sind Geister, und erinnern an Mantels autobiografischen Essay „Giving up the Ghost“, der von den Geistern, die Mantels Leben seit Kindertagen begleiten, erzählt. Man darf den Titel auch wörtlich mit „den Geist aufgeben“ übersetzen. Er erzählt nämlich von einem Körper, der genau das tut. Mantels eigenem Körper, von schlimmster Endometriose geplagt, einer Krankheit, die sie nicht nur kinderlos zurücklässt, sondern ihren Körper aufschwemmt. Mantel schreibt schonungslos darüber, wie aus dem Verfall des Körpers der Geist der Autorin geboren wird.

Auch der Roman ringt mit dem Verhältnis von Körper und Geist. In dem Maße, wie Henrys Körper zerfällt, werden die Geister zu bedrohlichen, dauervirilen Begleiterinnen. „In die Versuchung, deiner Frau den Kopf abzuschneiden, kommst du nicht jedes Jahr“, sagt Richmond, Henrys Bastard, zu Beginn des Textes. Natürlich wird er sich damit irren. Die Frauen, die geköpften und lebendigen, werden zum alles beherrschenden Thema. Jedes Heben ihrer Köpfe wird zum Zeichen. Was man heben kann, kann auch fallen.

Als es in einem Gespräch heißt, man müsse die Frauen nicht mit in die Sache hineinziehen, entgegnet Cromwell: „Sie stecken längst mit drin. Es geht nur um Frauen.“ Und das ist der Clou: Geschichte ist His-Story, Er-Zählung, aber ohne die Körper der Frauen nicht denkbar. Die Frauen mögen wie Schachfiguren auf dem Brett der Geschichte herumgeschoben werden, sprachlos, ohne agency. Aber noch als Geister beherrschen sie das Geschehen. Sie zeugen vom Verhältnis von Spiegel und Licht, Macht und ihrer Reflexion.

Dass der gichtgeplagte, zuletzt impotente Henry die potenteste Frau der Geschichte zeugt, dass sie zu unvergleichlicher Macht, ihr Land zu unvergleichlicher Blüte aufsteigt, ist die schöne Pointe der Geschichte. Als ewige Jungfrau wird Elisabeth I. nie ganz zur Frau werden, jedenfalls im Geiste der Männer: Ihr Körper ist kein Instrument ihrer Machtspiele. Anders als Marys, Janes oder Annes. Elisabeth wird nie „den Geist aufgeben“, um den Preis, ihren Körper – nicht den Leib der Königin, nur den Körper der Frau – zu opfern. Das aber ist eine andere Geschichte.

Hilary Mantel: „Spiegel und Licht“. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Dumont, Köln 2020, 1.104 Seiten, 32 Euro