Es muss nicht Gold um jeden Preis sein

ERFOLG Viele Chinesen betrachten die Medaillenausbeute inzwischen mit Gelassenheit. In Peking war das noch anders

BERLIN taz | Die Olympischen Spiele – ein Spiegel der Seele des chinesischen Volkes. So sieht die chinesische Global Times das Sportfest in London, das für Chinas Sportler nicht den ganz reichen Medaillensegen brachte wie jenes, das sie vor vier Jahren in Peking ausrichteten. Damals waren die Chinesen mit 51 Goldmedaillen ganz vorn, in London mussten sie sich hinter den USA mit dem zweiten Platz begnügen: Acht Goldmedaillen und insgesamt 17 Medaillen weniger gewannen sie als die Amerikaner.

Nach diesem Ergebnis „wäre es dumm, auf sich selbst herabzusehen“, kommentierte die Zeitung die Medaillenernte dieses Sommers. „Aber zu viel Selbstbewusstsein wäre noch schlechter.“ Insgesamt hätten die Londoner Spiele ein „China mit verwirrenden Werten“ widergespiegelt. Die meisten Chinesen wären mit dem Resultat nicht unzufrieden, nur wenige würden dem Gedanken, dass man „um jeden Preis“ Goldmedaillen gewinnen müsse, nachhängen.

Die Global Times trifft den Kern der öffentlichen Debatte der letzten Tage: Hat die Jagd nach Gold Sinn – zumal in Sportarten, die es in China, einem Land ohne Breitensport, nicht gibt? Ist die Zahl von Goldmedaillen wirklich der Gradmesser für nationalen Stolz?

Begonnen hatte die Selbstreflexion der vergangenen Tage, als sich Gewichtheber Wu Jingbao dafür entschuldigte, dass er das „Vaterland entehrt“ habe: „Ich bitte alle um Verzeihung“, schluchzte er in die Kamera. Dabei hatte er in der 56-Kilo-Klasse eine Silbermedaille gewonnen. Selbst der irritierte Reporter des chinesischen Fernsehens vermochte den vermeintlichen Versager nicht zu trösten.

Manche Medien stärken diese unbedingte Jagd nach dem Erfolg. Sie sei eine „Schande“, befand eine Zeitung in der südlichen Provinz Yunnan, nachdem es der 17-jährigen Zhou Jun, einer Teamkameradin Wus, nicht gelungen war, ihre Last in drei Versuchen zu stemmen. Gegen diese Haltung empörten sich viele Chinesen im Internet. „Sie ist doch erst 17 Jahre alt. Wie kann man da sagen, dass sie eine Schande ist?“, schrieb ein Nutzer von Weibo, der chinesischen Mikroblog-Schwester von Twitter.

„Welcher Chinese, ausgestattet mit einem Hirn, würde die Zahl der Goldmedaillen als große Sache ansehen?“, monierte die Diskussionsteilnehmerin „Little Cloud-ding“. Ein Land mit einem nationalen Sportprogramm wie China züchte „Sportler wie Vieh“ und gebe Geld für nur ausgewählte wenige aus, anstatt die Fitness der breiten Allgemeinheit zu fördern. Zudem sei das mit viel Geld finanzierte Sportprogramm hinter den Kulissen eine „brutale Angelegenheit, schmutzig und korrupt“.

Ausgelöst hatte die Debatte die – offenbar falsche – Nachricht, dass Chinas Regierung nur der Sportschützin Yi Siling zu ihrer Goldmedaille gratuliert hatte, nicht aber der Dritten Yu Dan. „Mangelnder Respekt“, lautete das Urteil vieler Chinesen im Internet. Chinesische Medien haben das Thema aufgegriffen. Die Finanzzeitschrift Caixin erklärt Chinas Sucht nach Gold mit – Geld. Sponsoren würden für Goldmedaillen enorme Prämien ausloben, schrieb Caixin. So habe Li Ning, Gründer eines großen Sportausrüsters, 2008 in Peking für siegreiche Sportschützen zusätzlich zu den staatlichen Siegprämien jeweils eine Million Yuan (circa 128.000 Euro) gezahlt.

Die Global Times macht historische Gründe dafür aus, nur Goldmedaillengewinner zu verehren. China sei lange der „kranke Mann Asiens“ gewesen, die erste Goldmedaille für China überhaupt habe ein Sportler erst 1984 gewonnen. „Deshalb ist es verständlich, dass China so viel Gewicht auf Goldmedaillen legt.“ Nun aber beginne sich in der Gesellschaft der Goldrausch „abzukühlen“. JUTTA LIETSCH