der rote faden
: Leben, mit der Energie eines Wellensittichs

Foto: David Oliveira

Durch die Woche mit Ebru Tasdemir

Liebe Systemrelevanten, ich habe nicht mitgeklatscht. Uff, nu ist es raus. Immer wenn ich mir fest vornahm, doch wirklich heute Abend am Fenster zu stehen um 18 Uhr oder um 21 Uhr (genau da beginnt auch schon das Problem), da war ich irgendwie absent. Mit einer wirklich nur leisen Genugtuung habe ich dann lesen dürfen, dass die Krankenpfleger und Ärztinnen sich gar nicht so sehr über den Applaus freuen. Oder doch, vielleicht ein bisschen. Aber noch mehr hätten sie sich freuen können, wenn wir ein wenig früher bei ihren Demos mitgelaufen und auf Bettpfannen den Takt zu „We Will Rock You“ mitgeschlagen und gegen den Pflegenotstand mitdemonstriert hätten. Damals, als alles wegrationalisiert worden ist, was nicht bei drei auf den Bäumen war.

Klatschen

Den Zeitpunkt haben wir alle verpasst. Dann eben abends klatschen. Das läuft dann so, dass mir um, sagen wir, 21.17 Uhr, einfällt: Ach Mensch, klatschen! Aber anscheinend steht in ganz Berlin einzig meine Nachbarschaft nicht auf dem Balkon; würde man ja sonst früher mitbekommen.

Und weil ich das abends immer verpenne, habe ich mir in meinem jugendlichen Quarantäne-Elan die anderen systemrelevanten Berufe vorgenommen, für die klatschte ja noch keiner so richtig. An der Supermarktkasse habe ich es kurz versucht. Nicht zu klatschen, aber der Verkäuferin wenigstens zu sagen: „Danke, dass Sie da sind und hier tagein, tagaus sitzen und Waren über das Band ziehen. Das bedeutet mir sehr viel.“ Sie guckte mich an und sagte „Na, wat soll ick denn sonst machen, zu Hause sitzen und warten, dass Geld vom Himmel regnet oda wat, so dit macht dann achtunfuffzichsechzich, aber nur mit Karte.“

Zweiter und letzter Versuch: Als am Dienstag in dieser Woche dann die Müllabfuhr kam, und ich um 6.30 Uhr mit dem ersten Kaffee am Fenster saß, sperrte ich das Fenster weit auf und dachte kurz daran zu klatschen. Die beiden Müllmänner hätten vermutlich gar nichts gehört, weil die Müllcontainer mit so einem tutenden Krach abgeladen werden. Und so brüllte ich eben ersatzweise ein DANKE auf die Straße – und raten Sie, was? Keiner fühlte sich angesprochen. Noch nicht mal der Passant, der seinen Hund vor meiner Haustür Gassi führte, was ja auch ein bisschen systemrelevant ist. Also für den Hund.

Kasse

Auf den Hund gekommen ist mittlerweile auch das Zusammenleben mit den anderen Menschen. In einer Großstadt wie Berlin wird es mit einem Bußgeldkatalog geahndet. Mal gucken, wie genau man durchsetzen will, dass unter 16-Jährige Bußgeld bezahlen sollen, wenn sie trotz Verbots die Oma im Pflegeheim besuchen. Die Botschaft ist ja angekommen: Setzt euch mit einer Stoppuhr auf die Parkbank, bleibt nicht stehen, macht keine politischen Aktionen, auch wenn ihr nur zu zweit seid (auch schon vorgekommen) – und jetzt wieder ab mit euch in die Hütte.

Aber vielleicht sollte ich nicht so sehr meckern. In der Türkei, da, wo meine Eltern leben und wo die Zahl der Infizierten ungefähr so schnell steigt wie in den USA, gibt es seit zwei Wochen eine Ausgangssperre für über 65-Jährige, was eine Farce ist. Vor allem für Menschen, die regelmäßig zum Arzt müssen, zur Apotheke oder einfach mal Obst kaufen wollen. Geht alles nicht, sagt der Staat, lass mal Polizisten oder Freiwillige vom Katastrophendienst kommen, die machen das dann für dich. Baba muss am Telefon lachen, als er mir davon erzählt, aber weil ein Verstoß ein Bußgeld von knapp 4.000 Lira (umgerechnet etwas über 550 Euro) bedeuten würde, hat mein Paps dann doch den Katastrophendienst – bei der Polizei ging keiner ran – angerufen. Ein freundlicher junger Herr hat ihm dann die Medikamente gebracht, aber zum Geldabheben habe er ihn dann doch nicht geschickt. Kleine Einkäufe regelt zum Glück der kapıcı, der Concierge, aber wie lange? Noch nicht einmal vor die Tür trauen sie sich jetzt und winken den Nachbarn am Balkon zu, ohne sich groß zu unterhalten.

Katastrophenschutz

Als ihr Kind mit eigenen Kindern versuche ich, sie bei Laune zu halten. Ich rufe jeden Tag an, wir schimpfen gemeinsam über die Politik, und ich zeige ihnen per Videochat unsere Wellensittiche, wie sie Grünzeug knabbern und im Sturzflug im Zimmer rumfliegen und manchmal im Geldbaum (Crassula ovata) am Fenster landen und auf die Straße schielen, zu den freien Vögeln.

Kurzgeld

Und mehr als so ein Wellensittich können wir derzeit ja auch nicht leisten. Ist schon imposant, wie alle gerade den Tag überstehen, mal mehr, mal weniger gefordert. Manche verlieren gerade ihre Jobs oder müssen überlegen, wie sie sich mit dem Kurzarbeitergeld bis zum Ende des Monats und der Pandemie über Wasser halten – und das sind bestimmt nicht diejenigen, die darüber meckern, wie anstrengend Home­office, Homeschooling oder die Bestellung beim Lieferdienst derzeit ist. Also: halbwegs gut gelaunt durch den Tag kommen.

Leben halt, so gut es geht.

Nächste Woche Johanna Roth