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Der Zwang zur sinnproduzierenden Verkettung von Kunst und Welt

Treppen, Trichter und Trompeten: Erinnerungen an „Jüngstes Gericht“, Werke des britischen Bildhauers Anthony Caro (1924–2013) in der Gemäldegalerie Berlin

Von Dominikus Müller

Es ist noch gar nicht lange her, nur ein paar Wochen. Aber es war eine andere Welt, eine andere Zeit. Man konnte noch in Ausstellungen gehen, man konnte noch Kunst angucken und das nicht am Bildschirm, sondern mit dem eigenen Körper, den man durch echte Räume bewegte, die nicht die eigene Wohnung, der Supermarkt oder die Apotheke sind. In der Berliner Gemäldegalerie hatte ich damals eine Ausstellung von Anthony Caro gesehen, einem britischen Bildhauer und ehemaligen Assistenten von Henry Moore, geboren 1924 und gestorben 2013. Ein Mensch und Künstler ganz 20. und eben nicht 21. Jahrhundert: Einer, der mit eleganten und meist farbigen skulpturalen Assemblagen aus wuchtigem Stahl in den 1960er Jahren erst versuchte, in der puren Abstraktion jegliche Verweise auf die Welt da draußen aus seinen Arbeiten zu tilgen; und einer, der in seinem Spät- und Alterswerk die Darstellung der Welt über den Umweg des Mythologischen, Allegorischen und Narrativen wieder in sein Werk zurückholte und zu den wirklich klassischen Themen zurückkehrte: Ins antike Griechenland mit einer Art freistehendem monumentalen Fries aus rostigem Stahl namens „After Olympia“; oder aber zum biblischen Jüngsten Gericht in dieser Skulpturengruppe, die seit Ende letzten Jahres eben in der Berliner Gemäldegalerie steht und dort noch bis zum Juli dieses Jahres zu sehen wäre, hätte das Museum denn nur geöffnet.

Diese „The Last Judgement Sculpture“ – Caro hat sie in den 1990er Jahren, da war er auch schon über 70, unter dem Eindruck der Gräueltaten der Balkankriege geschaffen – geizt nicht mit gewichtigen Referenzen an die Schrecken der letzten Tage, an Himmelstore, Jakobsleitern, Sünden wie Habgier und Neid, an die griechische Mythologie und das menschengemachte Leid von Gefangenschaft, Folter und Genozid. Konkrete Bezüge auf die Schrecken des 20. Jahrhunderts werden dabei abstrahiert und in eine Geschichte von den großen und vermeintlich überzeitlichen Menschheitsthemen eingeschrieben. Es geht ja um die letzten, die wirklich wichtigen Dinge, die hier in wuchtigen, meist seltsam schaukastenartig organisierten, auratisch beleuchteten Skulpturen versinnbildlicht werden. Und in einer Art Kirchenschiff, das man durch einen Glockenturm betritt, kreuzweg­ähnlich angeordnet werden. Überall: Viel rostiges Metall, viel grober Stein, viel raues Holz, wuchtig und schwer; überall: Treppen, Leitern, Trichter, Ketten, Trompeten, erhobene Hände, verklumpte Körper, erstickte Schreie. Ziemlich viel alles. Vom Standpunkt heutiger Kunstproduktion aus, mit ihrem Fokus auf Sprecherpositionen, Situiertheit, Institutionskritik und Identitätspolitik: zu viel. Zu viel Symbolik, zu viel Erdenschwere, vor allem: zu viel Verallgemeinerung im ewigen Mythos. Als ich diese Skulptur, mit deren Präsentation die Gemäldegalerie eigentlich einen „kunsthistorischen Zeitsprung“ wagt, wie es im Ankündigungstext so schön heißt, und damit eine gewisse Relevanz der im Jüngsten Gericht behandelten „fundamentalen Fragen“ für das hier und heute behauptet, vor ein paar Wochen also sah, fand ich sie genau deswegen interessant, weil sie zum einen so gar nicht ins Heute passen wollte, zum anderen aber, aus der Zeit gefallen, wie sie war, eine interessante Kontrastfolie und einen möglichen Anknüpfungspunkt bot.

Urplötzliche Aktualität

Der Symbolismus dieses Werks – geschenkt! Die unmittelbare Haptik dieser Werke, ihre buchstäbliche Griffigkeit, körperliche Präsenz – ja bitte!

Das war vor ein paar Wochen. Heute kann man beinahe nicht anders, als die urplötzliche Aktualität derartiger Endzeitszenarien zu konstatieren. Weltuntergangsstimmung, Jüngstes Gericht, Ausnahmezustand, Rückkehr der großen Fragen und so weiter. Es ist schon eine seltsame Überzeugungskraft, die derartig ungewollte Kurzschlüsse des eigentlich Zufälligen über die Zeiten hinweg zu fabrizieren imstande ist. Und es ist faszinierend zu beobachten, wie offen und kontextabhängig dann auch die denkbar aufgeladenste und inhaltlich fixierteste Kunst noch ist; ebenso, welchem Zwang zur sinnproduzierenden Verkettung von Kunst und Welt (und allem anderen) man selbst unterliegt, gerade in Zeiten wie diesen, in denen Gewissheiten über Nacht entsorgt werden.

Gleichzeitig sind solche Lesarten aber natürlich große Vereinfachungen. Interessanter als der Kurzschluss der apokalyptischen Vergangenheit mit der apokalyptischen Gegenwart ist für mich gerade etwas anderes: An Caros altmodischer Skulptur wird in Zeiten geschlossener Ausstellungen und der Umstellung auf Online-Viewing-Rooms, virtuelle Museen und Insta-Stories noch einmal deutlich, was mit der körperlichen Dimension in der Erfahrung von Kunst alles verloren geht, was auf der Strecke bleibt und sich über kurz oder lang nicht in den digitalen Raum hinüberretten lässt. Denn so unmittelbar evident die Gegenwartsrelevanz von Caros Skulptur auf der symbolischen Ebene sein mag, geht im Gegenzug gerade ihre Körperlichkeit verloren und rückt noch weiter in die Vergangenheit: Die Oberflächenbeschaffenheit ihres Steins, die Ruppigkeit der Holzverschläge, der Rost auf diesem Stahl, all das. Der Symbolismus dieses Werks – geschenkt! Die unmittelbare Haptik dieser Werke, ihre buchstäbliche Griffigkeit, körperliche Präsenz – ja bitte! Gut möglich, dass man, haben die Museen erst einmal wieder geöffnet, gerade diese körperliche Dimension von Kunst nach Monaten des Entzugs wieder anders wertschätzt. Ebenso gut möglich aber, dass sich in der momentanen Übergangssituation ein größerer Shift hin zum Digitalen auch in der bildenden Kunst vollzieht. Man wird sehen, in ein paar Wochen, in ein paar Monaten.

Bis 12. Juli. Derzeit geschlossen

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