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Das Drehbuch ändern

Ist der Mensch nur eine notdürftig gezähmte Bestie? Noch immer konkurrieren Spekulationen über seine Natur, nicht nur in der Philosophie, wie Lutger Bregmann zeigt

Von Tom Wohlfarth

In Krisen und Katastrophen zeigt sich das wahre Gesicht eines Menschen, ja vielleicht sogar der Menschheit überhaupt, zumal wenn es sich um eine wahrhafte Menschheitskrise oder -katastrophe handelt. Eine weit verbreitete These besagt, dass der „dünne Firnis der Zivilisation“ in solchen Situationen brüchig wird und der Mensch wieder zu der Bestie mutiert, die er im Grunde nie aufgehört hat zu sein.

So sei etwa im Überlebenskampf nach einer Naturkatastrophe jeder Mensch nur noch sich selbst – und vielleicht gerade noch den engsten Familienmitgliedern – der Nächste, während er in einem Krieg endlich das blutrünstige Tier wieder hervorkehren kann, das er einst war. Und auch in einer Krise wie der gegenwärtigen – der weltweiten Pandemie eines neuen, tödlichen Virus – seien Menschen unverantwortliche Egoisten, die bei Sonnenschein im Park und auf nächtlichen Partys aus Vergnügungssucht das Leben ihrer Mitmenschen gefährden und zugleich in panischen Hamsterkäufen die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, Hygieneartikeln und medizinischer Ausrüstung lahmlegen.

So oder so ähnlich hatte es schon vor mehr als hundert Jahren der französische Arzt und Anthropologe Gustave Le Bon in seiner „Psychologie der Massen“ beschrieben, die später zur Lieblingslektüre von Hitler, Stalin und Mussolini werden sollte. Aber ist es wirklich so einfach?

Offenkundig nicht. Denn Kriege und Naturkatastrophen bringen verlässlich auch Mitmenschlichkeit und echtes Heldentum hervor, und auch in der aktuellen Krise lassen sich die Beispiele für Solidarität und Hilfsbereitschaft gar nicht alle aufzählen. Und dennoch hält sich im kollektiven Bewusstsein hartnäckig der Mythos vom brüchigen Firnis der Zivilisation und das Bild vom Menschen als notdürftig gezähmte Bestie.

Damit endgültig aufräumen will der niederländische Autor und Historiker Rutger Bregman. Nach Büchern wie „Die Geschichte des Fortschritts“ oder „Utopien für Realisten“ und seinem viralen Plädoyer für mehr Steuergerechtigkeit beim Weltwirtschaftsforum in Davos hat der 31-Jährige nun unter dem Titel „Im Grunde gut“ nicht weniger unternommen, als „eine neue Geschichte der Menschheit“ zu schreiben.

Die alte Geschichte, so Bregman, folge bis heute dem Drehbuch des britischen Philosophen Thomas Hobbes, für den der Mensch von Natur aus schlecht und nur durch den zivilisatorischen „Leviathan“ eines umfassenden Obrigkeitsstaats von seinen niederen, tierischen Instinkten zu heilen sei. Die neue Menschheitsgeschichte müsse dagegen dem Franzosen Jean-Jacques Rousseau folgen, der genau umgekehrt befand, dass Zivilisation und Institutionen die Menschen ihrer naturgegebenen Güte beraubt hätten.

Fatalerweise aber werde Hobbes’ Version der Geschichte bis heute für die „realistische“ gehalten und bestimme Weltsicht und Handeln der großen Mehrheit der Machthaber und Meinungsmacher, während Rousseaus „Idealismus“ allenfalls noch in der Reformpädagogik eine Rolle spiele.

Für seine These, dass dieser Idealismus aber im Grunde viel realistischer sei, bringt Bregman zahlreiche Beispiele: etwa die allseitigen Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg, die eigentlich dazu dienen sollten, die gegnerische Zivilbevölkerung ins Zivilisationsniveau der Steinzeit zu bomben und dadurch ihre Moral zu brechen – die aber letztlich genau das Gegenteil bewirkten.

Oder den verheerenden Hurrikan „Katrina“, der 2005 New Orleans vollständig verwüstete. Die Zeitungen schrieben über Vergewaltigungen und Schießereien, die Politik ließ statt Hilfsgütern und Rettungskräften die Armee einmarschieren – doch am Ende zeigte sich, dass die Soldaten den größten Schaden anrichteten, während die meisten Bürger lediglich einander geholfen hatten, anstatt in Panik oder gar Barbarei zu verfallen.

Rutger Bregman: „Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit“. Rowohlt, Hamburg 2020, 480 S., 24 Euro

Bregman spricht hier mit der US-amerikanischen Autorin Rebecca Solnit von „elite panic“, die entstehe, „weil die Machthaber die Menschheit für ihr eigenes Ebenbild halten“. Und ist das nicht auch etwas, woran man gegenwärtig denken kann?

Während aber nun Hobbes und Rousseau sich ihrerzeit weitestgehend auf philosophische Spekulation beschränken mussten, haben Wissenschaftler heute viele Möglichkeiten, die Frage nach dem „Naturzustand“ des Menschen – sprich den Jäger-und-Sammler-Gesellschaften vor der Etablierung der Landwirtschaft – wie auch nach seinem Katastrophenverhalten aufzuklären.

Legenden der Forschung

Doch auch in den Wissenschaften kämpfen weiterhin Hobbes’sche und Rousseau’sche Paradigmen gegeneinander. Bregman schildert ihren Kampf spannender als jeder Fernsehkrimi – und mit besserem Ende –, bringt haufenweise überzeugende Belege für seine Thesen und nutzt auch zahlreiche Gelegenheiten, seine eigenen Positionen aus früheren Büchern zu revidieren.

Vor allem in den letzten Jahren häufen sich die Hinweise, dass viele populäre Annahmen einer vermeintlich „realistischen“ Weltbetrachtung falsch sind. Weder seien etwa die menschlichen Gesellschaften vor der Sesshaftwerdung besonders kriegerisch und blutrünstig gewesen, wie am prominentesten der Psychologe Steven Pinker behauptet – nur leider mit falschen Zahlen –, noch habe der Homo Sapiens sich kraft seiner strategischen Intelligenz zum Herren der Welt aufgeschwungen – tatsächlich sei der Neandertaler wohl wesentlich schlauer gewesen.

Worin den Menschen allerdings niemand übertrifft, ist seine ausgeprägte soziale Intelligenz, seine Fähigkeit zur Kooperation, die die frühen Menschen nicht zuletzt dazu genutzt hätten, sich das Leben möglichst angenehm zu machen. Die Geschichte der menschlichen Evolution sei letztlich kein survival of the fittest gewesen, sondern ein survival of the friendliest.

Souverän erledigt Bregman auch zahlreiche Legenden der psychologischen Forschung. Vom Stanford-Prison- bis zum Milgram-Experiment seien sie letztlich gerade keine Beweise für die unabänderliche Schlechtigkeit der menschlichen Natur der Probanden, sondern vielmehr für den Missbrauch von Macht und Autorität der Experimenteure, die eine Bestätigung ihrer eigenen finsteren Weltsicht erzwingen wollten.

Fragt sich bei alldem bloß noch eines: Warum haben die Menschen jemals ihr entspannt-egalitäres Jäger-und-Sammler-Leben für ein sesshaftes Dasein in hierarchischen Machtstrukturen – und mit Krankheiten und Seuchen – eingetauscht?

Laut Bregman war das einem (un-)glücklichen Zufall nach dem Ende der letzten Eiszeit geschuldet, der die These Rousseaus bestätige: Es war die Erfindung des Privateigentums, die den Menschen in die starren Herrschaftsordnungen zwängte, unter denen er auch in den vermeintlich freiesten Gesellschaften heute noch leidet. Noch. Denn was der Menschheit erst in den letzten Minuten ihres langen Erdentages widerfuhr, könnten sie ab morgen auch einfach wieder hinter sich lassen.

Bregmans mutmachende Beispiele eines „neuen Realismus“, der davon ausgeht, dass der Mensch im Grunde gut ist – vom besten (und billigsten) Pflegedienst der Niederlande über norwegische „Luxus“-Gefängnisse bis hin zu spielenden Schulen und Bürgerbeteiligungen überall auf der Welt –, machen eines klar: Es ist noch nicht zu spät, den Homo Puppy – der seinen Mitmenschen in Wahrheit kein Wolf ist (wie Hobbes meinte), sondern ein Hundewelpe – wieder seine natürliche Freundlichkeit hervorkehren zu lassen, nämlich indem man sie ihm auch selbst zuteil werden lässt.

Was hieße das aber nun für die gegenwärtige Krise? Wie in allen Krisen wäre auch in dieser vor allem auf die solidarische Intelligenz der Menschen zu vertrauen – sofern sie nicht von zynischen oder heuchlerischen Machthabern untergraben wird. Und das meint nicht nur Despoten wie Viktor Orbán, der gerade faktisch die erste Diktatur der Europäischen Union errichtet hat, sondern auch die Demokrat*innen, die ihr Aktionsrepertoire nicht auf Überwachen und Strafen beschränken sollten, sondern um Freiheit und Vertrauen erweitern.

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