Gassi geh’n und gärtnern

Kann man sich an den Corona-Ausnahmezustand gewöhnen? Nach drei Wochen Ausgangsbeschränkungen ist das Leben in Europas Metropolen zum Erliegen gekommen. Fünf Momentaufnahmen

So viele Berliner genossen am Wochenende – mit Abstand – die Sonne Foto: Christoph Soeder/dpa

Hunde mit Harndrang

Vierbeiner hier in Rom könnten jetzt alle den gleichen Namen tragen: „Triftig“. Hunden nämlich billigt die Regierung zu, sie stellten einen „triftigen Grund“ dar, um ihre Besitzer_innen mitzunehmen auf einen Spaziergang durchs Wohnviertel. Und so sieht man all die Herrchen und Frauchen, wie sie mit ihrem Bello ohne Unterlass dem Hoftor unseres Wohnblocks zustreben. Die Tiere, so scheint es, haben jetzt einen Harndrang, wie sie ihn vor der Coronakrise nie verspürten.

In Rom ist der Frühling mit Macht ausgebrochen, strahlender Sonnenschein, laue 22 Grad. Doch statt deutschen „Ausgangsbeschränkungen“ herrscht Ausgangssperre. Wer immer im Pkw, auf dem Fahrrad oder auch nur zu Fuß unterwegs ist, riskiert Kontrollen, muss die Selbstbescheinigung vorweisen, laut der er aus einem triftigen Grund ­unterwegs ist. So wird das Anstehen vorm Supermarkt zum einzig verbliebenen Freizeitspaß.

Verwaiste Straßen

Palmsonntag jedenfalls ist ausgefallen. Das übliche Bild an diesem Tag – an jeder Ecke Menschen, die nach dem Besuch der Messe mit den Olivenzweigen in der Hand an Jesu’ Einzug in Jerusalem erinnern – wurde 2020 nicht geliefert. Stattdessen verwaiste Straßen, auf denen vor allem Polizeiautos unterwegs sind. Genauso wird auch Ostern ausfallen, die üppigen Mittagessen mit Oma und Opa, mit den Geschwistern, den Nichten und Neffen, genauso wie die traditionelle Landpartie am Ostermontag.

Anders als Hunde stellen Kinder übrigens keinen „triftigen Grund“ dar, spazieren zu gehen. Bloß zum Supermarkt oder zur Apotheke darf man sie mitnehmen, wenn keiner zu Hause auf sie aufpassen kann. Und so tun die Kleinen auf einmal das, was bei uns im Wohnblock immer verboten war: Sie spielen im Hof. Ein Papa hat seine Fünfjährige in ein Tretauto gesetzt, eine Mama führt ihre etwas größere Tochter an der Hand, während sie auf Inline-Skatern die ersten ungelenken Schritte tut.

Es ist die eine Stunde Freigang, die einem im Knast zusteht. Viele Fenster, viele Balkontüren stehen bei dem schönen Wetter offen. Doch ganz anders als zu normalen Zeiten dringt aus den Wohnungen kaum je das Gebrüll eines ordentlichen Familienkrachs.

Michael Braun, Rom

Die Tauben turteln

Die Stille wird nur gelegentlich von der Sirene einer Ambulanz durchbrochen, die wahrscheinlich einen Patienten mit Covid-19-Verdacht in ein Krankenhaus transportiert. In den meisten Quartieren ist diese Stille fast noch unheimlicher als die vom Verkehr und Menschenmengen leergefegten Straßen. Die wenigen Fußgänger halten sich auf Distanz zu den anderen, gehen schweigend und schneller als sonst, und einige tragen eine Maske vorm Mund. Man fragt sich, wo sie diese Mangelware wohl beschafft haben. Besonders vereinsamt sehen Orte aus, wo sich wie rund um den Eiffel-Turm oder auf den Champs-Elysées normalerweise die Touristen drängen. Dort turteln jetzt ungestört die Tauben in der Frühlingssonne.

Die Regeln sind streng: Grundsätzlich herrscht ein Ausgehverbot für alle, das von der Polizei kontrolliert wird, bei Zuwiderhandlung drohen Geldstrafen. Wer mit den reduziert verkehrenden Bussen und den Metro-Linien noch zur Arbeit gehen muss oder darf, braucht eine schriftliche Bescheinigung des Arbeitgebers. Erlaubt sind pro Tag maximal eine Stunde Marschieren oder Joggen im Umkreis von einem Kilometer und zwingend nötige Einkäufe im Wohnquartier. Jedes Mal muss dazu ein Formular mit Datum- und Zeitangabe ausgefüllt werden, das man online herunterladen und ausgefüllt bei sich tragen muss. Vor den Supermärkten, wo die Kassiererin meist hinter einer Plastikschutzwand arbeitet, bilden sich Warteschlangen, in denen die Leute diszipliniert den nötigen Abstand wahren.

Der Sonnenschein am Wochenende hat jedoch vor allem die Familien, denen es in der Wohnung nach fast drei Wochen Mit- und Aufeinander eng wurde, nach draußen gelockt. Die bisher respektierten Restriktionen wurden plötzlich locker gehandhabt. Für die, die es sehr ernst nehmen, ist das ärgerlich. Wahrscheinlich hat nur das massive Polizeiaufgebot mit Kontrollschranken an den Ausfahrtstraßen verhindert, dass begüterte Hauptstadtbewohner scharenweise in ihre Ferienhäuser aufbrechen. Wenn um 20 Uhr die Nachbarn an den Fenstern aus Dankbarkeit für das unermüdliche Pflegepersonal applaudieren, wird man aber sehen, wo in jetzt unbeleuchteten Wohnungen Leute verschwunden sind. Rudolf Balmer, Paris

Glückliche Gärtner

Nach einer Woche kam die erlösende SMS: „Im Garten ist genug Platz zum Abstandhalten, also kommt gerne!“ Unsere Freundin mit großem Garten, in dem wir seit fünf Jahren mitgärtnern, hatte zwischenzeitlich Bedenken geäußert, dass wir uns beim Radieschenaussäen zu nahe kommen könnten. Doch diese Angst hat sich zwischenzeitlich gelegt. Man gewöhnt sich eben an alles, war der Befund. Auch an Abstandhalten im Alltag – unter Freunden, zu Nachbarn und Fremden sowieso. Und eben in der Kleingartensiedlung.

Gartenstadt Berlin

Privilegiert sind die Berliner, die auf ihr kleines Grundstück der häuslichen Enge entfliehen können. Rund 71.000 Kleingärten soll es in Berlin laut Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz geben – sie gelten als „wesentlicher Bestandteil des Stadtgrüns“. Keine vergleichbare Metropole – schönen Gruß nach Rom, Madrid, Paris und Warschau! – verfügt laut Senat über eine solch große Zahl an privat nutzbaren Gärten im unmittelbaren Einzugsbereich der Innenstadt.

Im Rest der Stadt konnten einem sehr viele Berliner begegnen, nicht nur in den Parks. Die Frankfurter Allee in Friedrichshain am Samstag sah aus wie vor Coronazeiten – so viele Menschen! Wer sonst die Friedrichshainer Nebenstraßen nutzt, um all zu vielen Menschen bewusst aus dem Wege zu gehen, hätte hier schon mal leicht in Panik geraten können. Aber nur auf den ersten Blick. Denn praktisch alle einzelnen Personen und auch die Pärchen oder Kleinfamilien hielten den Sicherheitsabstand ein. Krass, für Berliner Verhältnisse!

Gleiches Bild am Sonntag in Niederschönhausen, da, wo unser Garten liegt, sozusagen kurz vor dem Ende der Stadt. Im Sekundentakt fahren Menschen auf Fahrrädern vorbei, mal einzeln, aber ganz oft in Familienstärke. Die einen treten flott in die Pedalen, den anderen sieht man das „Sonntagsfahren“ an. Aber egal. Was auffällt: auch hier halten sich alle an die Abstandsregeln. Das ist doch echt mal eine gute Nachricht.

Und auf dem Friedhof gleich um die Ecke in meinem Kiez ist kein Mensch zu sehen. Nur am Ende eines langes Weges brummt es richtig. Da stehen viele Bienenkörbe und die Bienen sind fleißig unterwegs. Sie müssen sich nicht an die Abstandsregeln halten.

Andreas Hergeth, Berlin

Der Trick mit dem Beutel

Madrid ist wie ausgestorben. Bis auf Supermärkte und kleine Lebensmittelgeschäfte ist alles geschlossen. Polizei patrouilliert durch die fast menschenleeren Straßen. Wer das Haus verlässt und nicht einkaufen geht oder den Hund Gassi führt oder gar in Begleitung angetroffen wird, muss mit einem Bußgeld rechnen.

Natürlich gibt es auch diejenigen, die versuchen, die Ausgangssperre zu umgehen. Der einfachste Trick: ein zusammengefalteter Einkaufsbeutel unter dem Arm oder ein Rundgang mit dem Hund des Nachbarn. Da hilft es ungemein, dass Madrids Stadtpolizei, anders als noch vor Jahren, keine Nahbereichsbeamten mehr hat, die ihre Nachbarn kennen.

Der Verkehr hat um 87 Prozent abgenommen. Aber es gibt noch Menschen, die glauben, sie könnten das Auto nehmen, um in ihren Zweitwohnsitz zu fahren. Deshalb hat die Verkehrspolizei ihre Kontrollen zu Beginn der Osterwoche besonders verstärkt. Vor allem mitten in der Nacht nimmt der Verkehr zu.

In den ersten drei Wochen nach dem Inkrafttreten der Verordnung am 14. März wurden 11.816 Bußgeldbescheide ausgestellt. Ein Stadtteil sticht bei den Verstößen ganz besonders hervor: Puente de Vallecas. Es ist einer der ärmsten Innenstadtbezirke. Die Wohnungen sind klein. Was in normalen Zeiten schon schwierig auszuhalten ist, wird durch die Ausgangssperre unerträglich. Das Leben in Quarantäne ist auch eine Klassenfrage.

Reiner Wandler, Madrid

„Rekreacja“ ist schwierig

In Warschau lockt der Frühling. An den Bäumen sprießt das erste frische Grün und die warme Aprilsonne lässt einen die Atemmaske vom Kopf reißen. Doch Passanten werfen einem missbilligende Blicke zu, also zieht man sie wieder ins Gesicht.

Am Montag sind es landesweit über 4.200 bestätigte Covid-19-Kranke und 98 Tote, die Dunkelziffer ist wesentlich höher. Auf den Straßen patrouillieren Polizisten, lassen sich den Ausweis zeigen und mahnen, auf dem schnellsten Wege nach Hause zurückzugehen. Wer keinen Grund für seinen „Spaziergang“ angeben kann – erlaubt ist nur der Weg zur Arbeit, zum Arzt sowie zum Einkaufen – kann sein Portemonnaie zücken. Die Geldbußen sind sofort zu bezahlen.

Parks sind geschlossen, die Weichsel-Boulevards und -Strände, sogar die Stadtwälder. So wie auch die Restaurants, Cafés, Läden, Kinos und Theater, Spielplätze und Trimmpfade. Das Wort „rekreacja“ ist trotzdem in aller Munde: ohne „rekreacja“ an der frischen Luft würde man „zwariowac“ – „wahnsinnig werden“.

Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre dürfen die Wohnung nicht mehr ohne ihre Eltern verlassen. Die Eltern sind genervt, auch weil sie nicht wissen, wie es weitergehen soll. Hier rächt sich, dass Polens Regierung den sozialen Wohnungsbau in den letzten Jahren völlig vernachlässigt hat. Sechsköpfige Familien in einer 2-Zimmer-Wohnung sind keine Seltenheit.

Gabriele Lesser, Warschau