Zwitschern statt bibbern

Der zweitwärmste Winter seit Beginn der Aufzeichnung geht zu Ende. Es ist nicht nur ein statistisches Phänomen, es ist eine Entwicklung, die vielfache Folgen hat. Ein Exkurs in die Umwelt und Ökonomie, in die Flora und Fauna

Von Andrew Müller
(Texte) und Aletta Lübbers (Illustration)

Als der Biologe Reinhard Klenke zwei Tage vor Weihnachten in der Leipziger Innenstadt unterwegs war, traute er seinen Ohren kaum: Eine Amsel trällerte ihr Lied, als sei schon Frühling. Dabei hatte die kalte Jahreszeit mit der Wintersonnenwende doch erst begonnen. Lag es am künstlichen Licht und der höheren Temperatur in der Stadt? Schon die Woche zuvor war es sonnig und immer auch nachts frostfrei gewesen. Das Amsel-Exemplar, das Klenke belauschte, war dadurch offenbar besonders früh in Stimmung gekommen. Nicht nur dieses.

Der milde Winter hat überall in Deutschland dafür gesorgt, dass es schon Wochen oder gar Monate früher als sonst blüht, sprießt und zwitschert. Kein Wunder, könnte man meinen: Laut Erdbeobachtungsprogramm Copernicus war dieser Winter in Europa der bei weitem wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1881.

Für Deutschland lässt sich der subjektive Eindruck fehlenden Schnees mit wissenschaftlichen Daten belegen: „Der Dezember 2019 war 2,9 Grad, der Januar 2020 sogar 4 Grad wärmer als die vieljährigen Dezember- beziehungsweise Januarmittel der internationalen Referenzperiode 1961–1990“, sagt Florian Imbery, der Leiter des Sachgebiets Klimaanalyse beim Deutschen Wetterdienst (DWD). Er setzt dann noch einen drauf: „Der Februar war sogar circa 4,9 Grad zu warm.“ Damit geht der meteorologische Winter 2019/2020 nach 2006/2007 als zweitwärmster je in Deutschland gemessener in die Geschichte ein.

Aber ist es wirklich der Klimawandel, der Schnee zum Postkartenmotiv degradiert und Vögel früher singen lässt? Mildes Winterwetter hat es schon immer gegeben, ohne dass es zu irgendwelchen Katastrophen kam.

Zu einem gewissen Grade muss man Wetter und Klima auseinanderhalten. Ersteres bezieht sich auf kurzfristige und lokale Phänomene, von Klima spricht man erst ab einem Zeitraum von etwa 30 Jahren.

Und dennoch hängt beides zusammen: „Auch dieser Winter schreibt eine sich abzeichnende langfristige Entwicklung klimatischer Veränderungen fort“, sagt Peter Hoffmann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Die mittleren Wintertemperaturen Deutschlands sind in den letzten 140 Jahren um 1,6 Grad gestiegen. Das liegt sogar leicht über dem Sommerwert und entspricht etwa dem Anstieg durch den anthropogenen Klimawandel insgesamt. In den letzten 70 Jahren ist auch die Anzahl der Schneedeckentage im Schnitt um 21 Tage zurückgegangen. Insgesamt werden unwinterliche Winter also eindeutig häufiger.

Das heißt aber keinesfalls, betonen Expert:innen immer wieder, dass es nicht auch wieder kalte oder gar eisige Perioden oder Winter geben kann. „Zum Beispiel beeinflusst der Klimawandel auch Windsysteme“, sagt Hoffmann, die „dann auch mal veränderte Bahnen einschlagen und Polarluft weit nach Süden transportieren“.

Während ganzjährig betrachtet Extremwetter­ereignisse wahrscheinlicher und die Sommer in den meisten Regionen Deutschlands immer wärmer und trockener werden, werden die Winter in der Tendenz nicht nur zu mild, sondern auch regenreich. „Wir beobachten eine signifikante Zunahme der Niederschläge, allerdings, mehr noch als bei den Temperaturen, mit einer hohen Variabilität von Jahr zu Jahr“, wertet Imbery vom DWD die Daten aus. Zwar waren Dezember 2019 und Januar 2020 vergleichsweise zu trocken. Aber seit Februar regnete es so viel, dass der Winter insgesamt trotzdem einen Niederschlagsüberschuss vorweist. Das sei „aktuell aber auch sehr nötig aufgrund der sehr trockenen und zu warmen letzten zwei Jahre“, sagt Imbery.

Neben dem kalendarischen und meteorologischen Winter gibt es noch den phänologischen. Dieser wird anhand von im Jahresverlauf periodisch wiederkehrenden natürlichen Entwicklungserscheinungen definiert – Pflanzenwachstum, Vogelbalz, Frühlingserwachen.

Im Sinne der Phänologie begannen Frühling, Sommer und Herbst in Deutschland während der letzten 67 Jahren immer früher, wurden also länger, nur „der Winter ist deutlich kürzer geworden“, erklärt Ruth Birkhölzer, Pressesprecherin des Bundesamts für Naturschutz (BfN). Ein besonders wichtiger Indikator für den Vorfrühlingsbeginn ist die Haselblüte. Und die hat sich im langjährigen Mittel bereits um zwei Wochen vom 12. Februar auf den 25. Januar nach vorn geschoben, so Birkhölzer. Dieses Jahr ging es teils noch früher los – zum Leidwesen von Allergiker:innen.

Was haben kurze milde und zumeist regenreiche Winter sonst für Folgen – sind sie schlimm?

Manche Menschen vermissen Schneeballschlachten, andere freuen sich über Winterwärme. Die Zahl der Kältetoten dürfte niedriger sein. Vor allem Alleebäume profitieren davon, dass der Winterdienst seltener ausrückt, um Salz zu streuen. Auch die Luft wird gewissermaßen gewaschen: „Milde Winter mit viel Niederschlag und Wind wirken sich positiv auf die Luftschadstoffbelastung aus, besonders merklich bei Feinstaub“, sagt Luftqualitätsexpertin Ute Daubert vom Umweltbundesamt (UBA).

Es gibt also Vorteile. Besonders naheliegend: Es muss weniger geheizt werden. „Das senkt Haushaltskosten und ist gut für die CO2-Bilanz“, sagt Hoffmann vom PIK. Auch Landwirtschaft, Bauwesen und Infrastruktur verzeichnen teils positive Effekte. „Vielleicht ist ein warmer Winter volkswirtschaftlich sogar ein Gewinn?“, überlegt Inke Schauser vom Umweltbundesamt (UBA). Den Chancen stünden jedoch, wie sie anmerkt, kaum berechenbare Risiken und Gefahren gegenüber – und zwar nicht nur für den Wintertourismus.

Die Folgen in der Natur sind extrem komplex und teilweise nicht gut erforscht. „Die meisten Tiere und Pflanzen kommen mit milden Wintern gut zurecht“, versichert Markus Weitere vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ). Manche Arten können zwar durcheinanderkommen, aber die meisten fangen lediglich früher an, aktiv zu werden. Problematischer ist dann aber Spätfrost: Aus Winterschlaf, -ruhe oder -starre erwachte Tiere können schlimmstenfalls verhungern oder erfrieren. Zarte Triebe und Blüten vieler Pflanzen sterben ab – ein zweites Mal in Wachstum zu investieren schwächt sie, und Obsternten gehen verloren.

Wie milde Winter sind auch späte Temperaturstürze kein neues Phänomen, aber sie treffen Organismen härter, je fortgeschrittener diese in ihrer Entwicklung sind. Kommt es bei immer früherem Frühlingsbeginn wiederholt zu heftigen Spätfrösten, kann das langfristig Auswirkungen auf ganze Populationen und Ökosysteme haben.

Die Temperatur ist aber nicht unbedingt der entscheidende Faktor. Wichtiger, sagt Markus Weitere, seien oft „die indirekten Folgen durch Verschiebungen im ökologischen Wirkungsgefüge“. Denn aufeinander abgestimmte Prozesse könnten nicht mehr zusammenpassen – Expert:innen sprechen von „Mismatch“.

So richtet sich die Frühjahrsaktivität mancher Arten eher nach der Witterung, während andere mehr durch Gene oder auch Tageslichtlänge gesteuert sind. Wird es früher warm, können Organismen sich gewissermaßen „verpassen“ oder in einer für sie ungünstigen Zeit ins Jahr starten. Manche Tiere wie Bienen und andere Insekten finden dadurch nicht genügend Nahrung, der Nachwuchs mancher Arten ist bedroht, weil normalerweise noch schlummernde Räuber früher auftauchen.

„Solche Entwicklungen sind vor allem ein Problem für jene, die sowieso schon bedroht sind und kleine Lebensräume haben“, sagt Milan Fanck vom BUND. „Spezialisten werden unter schnellem Wandel eher leiden als Generalisten“, ergänzt NABU-Pressesprecherin Iris Barthel. An kühlere Temperaturen angepasste Tiere und Pflanzen weichen nach Norden und in höhere Lagen aus, „aber wenn es keinen funktionierenden Biotopverbund gibt, können sie aussterben – und irgendwann ist auch ein Berg zu Ende“. Es könnte also langfristig einiges in Bewegung kommen, und wie sich Organismen daran anpassen, hängt auch von der Geschwindigkeit der Veränderungen ab.

Thomas Hickler vom Forschungsinstitut Senckenberg erinnert daran, dass die Biodiversität im Süden generell höher ist. Zwar gingen kälteangepasste Arten verloren, aber es kämen auch neue aus dem Süden dazu, „sodass die gesamte biologische Vielfalt nicht abnehmen muss“. Außerdem sei diese in Deutschland vor allem durch Landnutzung bedingt: „Veränderungen insbesondere in der Landwirtschaft können größere Effekte haben als der Klimawandel.“

Und gleichzeitig hängt auch das wieder zusammen: Der Pressesprecher des Deutschen Bauernverbands Axel Finkenwirth berichtet, dass manche Wein- und Obstsorten in warmen Lagen inzwischen besser gedeihen. Für das übrige Sortiment habe man bisher „weder Nachteile noch Vorteile“ feststellen können. Ackerpflanzen kommen bisher gut klar, da Bäuer:innen mit Bodenbearbeitung, Aussaattermin und Züchtung reagieren. Mehr Winterniederschlag kann dabei förderlich sein; ausgewaschene Böden, wucherndes Unkraut oder Spätfrost hingegen schaden.

Eine weitere Gefahr für die Landwirtschaft: Aufgrund hoher Temperaturen können sich Schädlinge und Krankheiten, teils auch sogenannte invasive Arten aus wärmeren Gefilden, besser entwickeln. Zum ökologischen Problem werden dann womöglich nicht nur sie selbst, sondern auch der zusätzliche Einsatz von Pflanzenschutzmitteln.

Florian Imbery vom Deutschen Wetterdienst ist sich sicher: Milde Winter verheißen nichts Gutes: „In der Gesamtbilanz werden die negativen Folgen die Vorteile bei Weitem überwiegen.“

Schutzlos ohne Schnee und Frost

Wenn der Winter ausfällt und damit auch die Schneedecke auf dem Boden fehlt, kann das für Pflanzen und Tiere sehr unangenehm werden, denn sie gleicht Temperaturschwankungen aus. Sie schützt vor Frost und hilft Tieren, sich zu verstecken.

Für Mäuse etwa ist es schlecht, wenn kein Schnee da ist, unter dem sie sich bewegen, denn er schütze sie vor Greifvögeln oder Eulen, wie Reinhard Klenke vom UFZ sagt. Auch Arten, die sich mit saisonal hellem Fell optisch an Winterlandschaften anpassen, fallen Fressfeinden schneller zum Opfer – ein Hermelin beispielsweise, das in schneeweißem Gewand über einen braunen Acker huscht, ist weithin sichtbar.

Für die Greifvögel ist fehlender Schnee im Umkehrschluss dann natürlich von Vorteil.

Aber Frost und Schnee schützen auch den Boden, indem sie ihn „festhalten“. Bleibt es mild, steigt die Erosionsgefahr. Sind die oberen Bodenschichten trocken, können sie durch Wind fortgetragen werden. Außerdem beschleunigen sich Abbauprozesse. Die dabei freigesetzten Mineral- und Nährstoffe können aber von den Pflanzen oft noch gar nicht richtig aufgenommen werden.

Zunehmender Regen tut sein Übriges: „Die Nährstoffe werden eher ausgewaschen und gehen verloren, der Humusgehalt des Bodens sinkt dadurch tendenziell“, sagt Martin Schädler vom Department Biozönoseforschung des UFZ.

Die Zecken sind los

Krankheiten bringende Krabbeltiere gedeihen bei höheren Temperaturen besser. Der heimische Holzbock etwa kann Erreger von Borreliose und FSME, einer Hirnhautentzündung, übertragen. Die Aktivität der Zecke hängt, wie Zeckenexpertin Birgit Habedank erklärt, aber auch von Feuchtigkeit und Versteckmöglichkeiten ab. Prinzipiell wird der Holzbock durch Winter wie dem vergangenen jedoch früher im Jahr zur Gefahr.

Kommt hinzu: „Die Bedingungen für eine Etablierung wärmeliebender Arten verbessern sich mit fortschreitendem Klimawandel“, sagt Habedank. So seien in Deutschland vermehrt adulte Tiere der vornehmlich tropischen Gattung Hyalomma nachgewiesen worden. An einem Exemplar wurden Rickettsia-Bakterien festgestellt, die das Zecken-Fleckfieber auslösen, 2019 kam es wohl zur ersten Übertragung in Deutschland. Zudem könnten andere Krankheiten wie das tödliche Krim-Kongo-Fieber so eingeschleppt werden. Wie effektiv Zecken Erreger übertragen, hänge aber nicht nur von der Wärme ab, wie Habedank noch mal betont.

Was Eisvogel freut und Kuckuck stört

Der blaumetallisch schillernde Eisvogel freut sich, wie viele in Deutschland überwinternde Vögel, wenn große Kälte ausbleibt. Trotz seines Namens hat er es schwer, in zugefrorenen Gewässern genügend Fische zu fangen.

Auch sogenannte Teilzieher wie Gänsesäger, Star und Mönchsgrasmücke mögen milde Winter. Sie fliegen gar nicht oder weniger weit weg und kommen früher aus ihren Quartieren zurück. Immer häufiger wird beobachtet, dass selbst Störche und Kraniche sich die weite Reise sparen.

Waschechte Langstrecken-Zugvögel wie Kuckuck oder Nachtigall aber, die den Winter in Afrika verbringen, kriegen vom vorgezogenen Frühling nichts mit und kehren bisher kaum früher zurück. Das kann ein echter Nachteil sein, denn „wer früher im Brutgebiet ist, kriegt eher die besten Brutplätze“, erklärt Nabu-Pressesprecherin Iris Barthel. Außerdem könne es passieren, dass die optimale Kükennahrung in Form bestimmter Raupen dann nicht mehr verfügbar ist.

Eine solche Unstimmigkeit trifft auch den Kuckuck, der seine Kinder von fremden Vogeleltern aufziehen lässt. Seine Rückkehr im April hängt vor allem von der Tageslänge ab, die selbst der Klimawandel nicht beeinflusst. „Durch den früheren Brutbeginn vieler anderer Vogelarten sind jedoch zu diesem Zeitpunkt schon zahlreiche Eier in einem Stadium, an dem der Kuckuck keines mehr dazulegen kann“, erklärt BfN-Sprecherin Ruth Birkhölzer.

Chilling Requirements

Viele Pflanzen gedeihen durch die immer länger werdende Vegetationsphase besser, insgesamt ist es früher und länger grün.

Manche Pflanzen und Samen aber brauchen einen Kälteschock, um im Frühjahr kraftvoll auszutreiben. Solche Chilling Requirements seien der Hauptgrund dafür, dass die Verfrühung des Pflanzenwachstums zumindest Grenzen hat, ergab eine 2016 veröffentlichte Studie unter Leitung von Maximilian Lange. Co-Autoren Ralf Seppelt und Daniel Doktor erklären: „Die Pflanze tritt also nicht mehr so einfach in die Winterruhe ein, um im Anschluss daran wieder das Wachstum zu forcieren.“

Tropischer Mückenbesuch

Mücken profitieren prinzipiell von hohen Temperaturen; Frost ist für heimische Arten aber auch kein Problem. Wie Mückenkennerin Doreen Werner vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung erklärt, kommen die wechselwarmen Plagegeister mit einem permanenten Schwanken der Temperatur um den Gefrierpunkt am schlechtesten klar. Zum einen switchen sie dann zwischen Aktivität und Starre hin und her, was Energie kostet. Außerdem werden Mücken dann von gefährlichen Pilzen attackiert, die schon bei 0 Grad aktiv werden. Wie sich die Population jedoch weiterentwickelt, hängt nicht nur von den Bedingungen im Winter ab. Bleibe es feucht, könne man sich „auf ein mückenfreudiges Frühjahr einstellen“, so Werner.

Auch bei Mücken bekommen wir zunehmend tropischen Besuch – die Asiatische Tigermücke hat sich inzwischen in verschiedenen Regionen etabliert und übersteht hiesige Winterbedingungen. „Diese Stechmückenart ist potenter Vektor für diverse Erreger, darunter das Chikungunya-, das Dengue- und das Zikavirus“, sagt Carola Kuhn vom UBA. In Deutschland ist es zu keiner Übertragung gekommen – bisher.