Es sind die kleinen Geschichten

Sozialpädagoge, Taxifahrer, Layouter, Chef: Andi Bull hat schon viele Stationen durchlaufen

Noch heute kriegt er leuchtende Augen, wenn er von seiner Begegnung mit der Staatsmacht erzählt

Von Anja Maier

In jenem historischen Frühling vor dreißig Jahren begab es sich, dass der Westler Andi Bull ein Obdach in Ostberlin fand. Dass er dafür einen Anpfiff vom HGLer – dem Hausgemeinschaftsleiter – abbekam. Und dass er damit eines klitzekleinen Hauchs von Dissidenz teilhaftig wurde. Aber der Reihe nach.

Der sogenannte Fall der Mauer war im Frühling 1990 gerade ein paar Monate her, da machten sich die Menschen in Ost und West daran, einander besser kennenzulernen und Geschäftsbeziehungen aufzubauen. Andreas „Andi“ Bull, damals 35 Jahre alt und seit drei Jahren bei der Westberliner taz, war maßgeblich an dem Projekt Ost-taz beteiligt.

Die Unübersichtlichkeit der historischen Situation gut erkennend, hatten nämlich ein paar Ostberliner KulturwissenschaftlerInnen und AutorInnen die übermütige Idee, die „tägliche linke Zeitung“ mit den Mitteln des DDR-Postzeitungsvertriebs im Osten unter die Leute zu bringen. Druckpapier und Vertriebsstrukturen waren vorhanden; JournalistInnen und andere Geneigte ebenfalls. Was fehlte, war jemand, der die Interessen und Möglichkeiten beider Seiten kühl analysieren und dann heißen Herzens in publizistisches Handeln umzusetzen wusste. Dieser Jemand war Andi Bull. Jener Mann, den taz-LeserInnen seit vielen Jahren als Autor der „Bull-Analyse“ kennen.

Als der „Wessi“ Bull im Februar 1990 in den Ostberliner Redaktionsräumen auftauchte, war erst mal gar nicht so klar, wer er eigentlich ist und was er will. Mal stand er am Lichttisch des Layouts, mal tippte er in einen der nagelneuen Westcomputer, auf deren Bildschirmen grüne Buchstaben vor schwarzem Hintergrund blinkten. Dass Andi durch die Räume in der Oberwasserstraße als Mitarbeiter der taz-Geschäftsführung West tigerte, dass der drahtige Mann mit dem freundlichen Lächeln und der Surfer-Frisur im Grunde unser Kontrolleur war, der Gesandte von Geschäftsführer Kalle Ruch und der damaligen Chefredakteurin Georgia Tornow, wussten vermutlich nur wenige.

Es war auch egal; in diesen Wochen und Monaten tauchten Menschen auf und wieder ab. Tagsüber wurde hart und lange gearbeitet und auch mal laut gestritten. Und abends gingen wir zusammen feiern. Bull, der Westler, kam gerne mit. In einer der noch ganz wenigen Kneipen des Ostens trafen wir uns spätabends wieder: im Tacheles, im Eimer, in der Assel in Berlin-Mitte. Oft im Café Westphal am Kollwitzplatz. Die Fenster zur Straße waren weit geöffnet, Musik dröhnte durch den noch nicht gentrifizierten Kiez, das Bier wurde in Flaschen über den Tresen gereicht. Wir rauchten und tranken; es gab viel zu diskutieren. Wir waren alle dreißig Jahre jünger als heute und taperten daher am nächsten Morgen unbekümmert in die Redaktion.

Als nach einer besonders langen Feiernacht schon der Frühlingsmorgen zu dämmern begann, nahm ich den übermüdeten und meiner Erinnerung nach ziemlich betrunkenen Andi kurzerhand mit in meine Wohnung, gleich um die Ecke gelegen. Hinterhaus, vierter Stock, zwei Zimmer, Kohleofen. Immerhin Innenklo. Andi schlief auf dem Boden des kleinen Zimmers, ich nebenan. Und soweit ich mich erinnere, war er am nächsten Morgen auch schon wieder verschwunden – in dieses Westberlin, wofür man damals noch Grenzübergänge anzusteuern hatte.

Als wir uns in der Redaktion wieder trafen, war Andi euphorisiert. Beim Verlassen des Hauses, erzählte er mir, sei er vom ­HGLer angehalten worden und nach dem Woher und dem Wohin befragt worden. Der Mann sei alles andere als begeistert gewesen über den unangemeldeten Übernachtungsgast, noch dazu aus dem kapitalistischen Ausland. „HGLer“ war in der DDR die Abkürzung für „Hausgemeinschaftsleiter“. Gemeint war damit die Person, die nicht nur das Hausbuch führte, in das sich jedeR BesucherIn einzutragen hatte. HGLer verfügten ebenso über vertiefte Kontakte zu den „Sicherheitsorganen“. Im Grunde waren sie benachbarte Spitzel.

Dass Andi in den allerletzten Zügen der größten DDR der Welt auf einen solchen getroffen war – noch dazu einen, der offenbar nicht begriffen hatte, dass seiner Dienste nicht länger bedurft wurde, hat ihn schwer beeindruckt. Noch heute kriegt er leuchtende Augen, wenn er von seiner Begegnung mit der Staatsmacht erzählt. Es sind solche kleinen Geschichten, die in einem Laden wie der taz fortbestehen.

Nur wenig später – die taz wandelte sich Anfang der Neunziger in jene Genossenschaft, die sie heute noch ist – wurde Andi Bull Geschäftsführer an der Seite von Kalle Ruch. Aus dem studierten Sozialpädagogen, Ex-Taxifahrer, Korrektor und freundlichen Kollegen war ein Chef geworden. Jedenfalls das, was man in der taz darunter zu verstehen meint.

Ich hörte auf, ihn Andi zu nennen, nachdem er mir und anderen verbliebenen Ex-Ost-tazlerInnen Anfang der Neunziger die Kündigung ausgesprochen hatte. Eine unwirksame Kündigung, wie sich herausstellen sollte. Aber gekränkt war ich dennoch, klar. Zurück von Andreas zu Andi wechselte ich dann aber doch irgendwann wieder.

Seit dreißig Jahren sind wir KollegInnen, Andi und ich. Viel Zeit, um miteinander zu tun zu haben. Andi hat mir ein paarmal geholfen, etwa wenn es um meine Stelle ging, um Gehaltsfragen, um Konflikte mit KollegInnen. Denn das ist er eben auch: nicht nur gern dabei gewesen, als die Welt eine kurze Zeit lang aus den Angeln war. Sondern einer, der Stück für Stück umsetzt, was er als richtig und gerecht erkannt hat. Und ganz nebenbei erinnert er sich bis heute gerne an jenen Spitzel in Hauslatschen vom Frühjahr 1990.