berliner szenen: Das war der Liebhaber
Ich stehe auf dem Friedhof vor dem Grab meines Vaters. Großmutter hat mich gebeten, die Tannenzweige abzudecken, „damit der Frühling kommen kann“.
Die Sonne scheint, aber der Wind ist kalt, und mein Empfinden entspricht insgesamt nicht ganz dem üblichen Frühlingsgefühl. In der Reihe gegenüber steht ein älterer Mann vor einem frischen Grab mit Blumen und Kränzen. Er trägt Handschuhe und hält seine Hände gefaltet. Ich überlege, ob er betet.
Als er hochsieht, nicken wir uns zu. Ich decke die Tannenzweige ab und trage sie zu dem großen Metallkorb. Beim Umdrehen bemerke ich den Mann mit einem Kranz im Arm in einigem Abstand hinter mir. Er wartet. Ich lächle ihn an. Er deutet auf den Kranz und sagt: „Ich muss den mal entsorgen.“ Ich nicke und trete ein paar Meter zur Seite. Er wirft den Kranz in den Korb und zeigt auf die rosa Schleife: „Das war der Liebhaber“, sagt er. „Bitte?“, frage ich, weil ich annehme, ich habe mich verhört. „Der da“, sagt er, „hatte ein Verhältnis mit meiner Frau, wie ich jetzt herausgekriegt habe.“ „Oh“, sage ich und überlege hektisch, was man in so einem Fall erwidert. Er sieht mich an: „Da denkt man über Jahrzehnte, man führt eine gute Ehe, und am Ende wird aus Briefen unterm Bett klar, dass man sie zu dritt geführt hat.“ „Das tut mir leid“, sage ich und stecke meine Hände in die Manteltaschen. „Ach na ja“, meint er, „ich habe schon gedacht, wer weiß, wie es sonst geworden wäre. Ohne den. Aber auf dem Grab muss er nicht auch noch auf ihr liegen.“
Er lacht. Ich auch. Wir lachen einen Tick zu lang, dann schauen wir uns an. „Bleiben Sie gesund“, sagt er. „Ist jetzt noch wichtiger als ohnehin schon.“ „Ich versuche es“, sage ich und wünsche ihm alles Gute. Im Gehen drehe ich mich noch mal um und sehe, wie er mit einer Harke auf den Kranz eindrischt. Isobel Markus
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