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: Schwarzes Haus im schwarzen Wald

„Dunkel, fast Nacht“ („Ciemno, prawie noc“, Polen 2019, Regie: Borys Lankosz)Die DVD ist ab 13 Euro erhältlich.

Verwunschen sieht die Landschaft aus in entsättigten Farben, dunkel und dunkler, die Tendenz ins Monochrome hält sich durch bis ans Ende. Als Alicja Tabor (Magdalena Cielecka) hier ankommt, im Zug, auf dem Bahnhof, nach der traumgleichen Fahrt, auf der Tonspur klimpert eine Art Spieluhrmusik, ist es tatsächlich Nacht. Alicja ist Reporterin, arbeitet und lebt nun in Warschau, aber sie kommt von hier, hinter den Bergen: Gerüchte, Geschichten sind in die Hauptstadt gedrungen. Geschichten von Kindern, die verschwinden, drei gleich, die Schuld wird den „Katzenfressern“ gegeben, wie die Sinti und Roma hier heißen.

Im Zug sitzt ihr gegenüber eine fast grotesk geschminkte Frau, in der Zeitung die Frage: „Wer hat die Kinder entführt?“ Auch ein Mann mit sehr eindrücklicher Visage, ein Mann im Gang rempelt sehr heftig: Regisseur Borys Lankosz, der hier einen Roman von Joanna Bator verfilmt hat, liebt es offensichtlich, dick aufzutragen, ganz buchstäblich. Ungeschminkt, auf der Suche nach Wahrheit ist die Protagonistin, viele andere sind hier eigentümlich gekleidet, in Lumpen gehüllt und tragen Namen wie Apolonia Kitty Kitty. Atmosphärisch bedrohlich sind die Stimmen und Klänge auf der Tonspur ganz nach vorne gemischt: Die Welt der verschwundenen Kinder rückt einem sehr auf die Pelle.

In den Bildern der Kleinstadt regiert einerseits das sehr gegenwärtig Reale, eine post­real­sozialistische Schmuddeligkeit mit blätterndem Putz und maladen Fassaden. Andererseits eine Märchenwelt mit Sandsteinfelsen und undurchdringlich scheinenden Wäldern, die nur die Vorderseite ist, auf deren Hinterseite viel verdrängtes Vergangenes liegt. So zieht Alicja ins Haus ihrer Eltern, das leer steht, auch wenn im Garten manch einer umgeht.

Das flehend-klagende „Remember Me“, die Arie aus Henry Purcells „Dido and Aeneas“, ist dabei im Soundtrack zu hören. Tatsächlich werden im Verlauf des weiteren Geschehens vergessene, verdrängte Ereignisse, beileibe nicht sanft, aus den Brunnen der Vergangenheit nach oben geholt. „Remember Me“ klagen und fordern hier blutige Vorgeschichten, die erinnert und geklärt werden müssen, klagt und fordert nicht zuletzt Alicjas von dieser für tot gehaltene Mutter.

Alicja ist verwandtschaftlich, das erhellt im Verlauf der komplizierten und sich immer weiter komplizierenden Geschichte, in die Hintergründe der gegenwärtigen Verbrechen verstrickt. Schreckliches kommt an den Tag oder auch, da es, wie der Titel verspricht, oft genug dunkel ist, an die Nacht. Die Ereignisse und Entdeckungen überschlagen sich, aber sie tun es eher im Zeitlupentempo. In seiner Inszenierung setzt Borys Lankosz nicht auf die Einheit von Atmosphäre und Handlung, sondern auf oft geradezu manieristisch herausgehobene Details und Momente, einzelne Szenen von großem Eigengewicht.

Was ein handelsüblicher Krimi sein könnte, mit der Reporterin als Detektivin, die Menschen befragt, Spuren nachgeht, Zusammenhänge erkennt, entpuppt sich rasch als Noir, in dem Stimmungen alles sind, Auflösungen, obwohl es sie durchaus gibt, am Ende doch nichts. Jede Befragung, jede Erzählung führt nur tiefer hinein in ein Gestrüpp aus Verbrechen, führt zurück zu den Verbrechen der Nazis, führt zurück zu den Verbrechen der Roten Armee. Und unter oder über dem sehr Realen liegt noch die Schicht der Legenden und Märchen, die Perlen der Prinzessin Daisy, das Lied vom schwarzen, schwarzen Haus im schwarzen, schwarzen Wald.

Irgendwann, früher oder später, ist das alles doch etwas too much. Aber noch da, wo der Film in seiner Geschichtenfülle aus dem Gleis gerät, wahrt er seine atmosphärische Intensität. Ekkehard Knörer