Die Politik
der Düfte

Ein Parfum und die Abgründe des 20. Jahrhunderts. Karl Schlögels Zugang zur Geschichte ist herausragend

Karl Schlögel: „Der Duft der Imperien“. Carl Hanser Verlag, München 2020, 221 S., 23 Euro

Von Barbara Oertel

Man hätte es ahnen können: Karl Schlögel hat immer mal wieder Überraschendes und Ungewöhnliches im Köcher. Als 2014 die Ukraine von Massenprotesten erschüttert wurde, Russland die Krim annektierte und im Donbass ein Krieg ausbrach, konstatierte der renommierte Osteuropahistoriker bei sich unumwunden einen blinden Fleck.

Auch Schlögels unlängst erschienene Abhandlung „Der Duft der Imperien“ ist eine Erkundung bekannten und unbekannten Terrains gleichermaßen, sie ist diesmal jedoch auch ein Schnupperstudium der besonderen Art. Die Recherche beginnt, eher zufällig, mit Erinnerungen des Autors an olfaktorische Wahrnehmungen in der Sowjetunion – da, wo es festlich zuging. Das Objekt der nasalen Begierde ist alsbald identifiziert: Ein Duft namens „Rotes Moskau“, der zum Parfum schlechthin in der Sowjetunion avancierte. „Im Duft eines Parfums kann die ganze Geschichte des 20. Jahrhunderts enthalten sein“, schreibt Schlögel und nimmt Witterung auf. Und rieche da, die Spur führt nach Frankreich. „Rotes Moskau“ hat einen Zwilling, Chanel N 5.

Die beiden edlen Wässerchen werden zur Chiffre für verschiedene Phasen der an Brüchen so reichen Geschichte des 20. Jahrhunderts – sei es in Politik und Wirtschaft, aber auch in der Kunst und (Alltags-)Kultur.

Am Anfang stehen mit Ernest Beaux und Auguste Michel zwei französische Parfümeure, die sich ins vorrevolutionäre Russland aufmachen, wo eine boomende Kosmetikbranche vielfältige Betätigungsmöglichkeiten bietet. Aus Anlass des 300-jährigen Kronjubiläums der Romanows kreiert Beaux 1913 den Duft „Bouquet de l’Imperatrice Catherine II“ – quasi den Voläufer von Chanel N 5 und „Rotes Moskau“. Anders als Beaux, der nach der Oktoberrevolution und dem Bürgerkrieg nach Frankreich zurückkehrt, bleibt Michel in Russland und wirkt an der Gründung der sowjetischen Parfumindustrie in Gestalt des Betriebes Neue Morgenröte mit. 1937, im Jahr der großen Säuberungen, erhält er den Auftrag zur Schaffung eines neuen Parfums, „Palast der Sowjets“ – ein zu einer Essenz geronnener Ausdruck für ein gigantomanisches Bauwerk der Superlative gleichen Namens, mit dessen Modell Moskau auf der Pariser Weltausstellung 1937 Furore machte.

Michel scheitert an der Aufgabe. Im selben Jahr verliert sich seine Spur und so kann auch Schlögel über sein weiteres Schicksal nur mutmaßen. „Wahrscheinlich ist sein Verschwinden mit den Repressionen in Zusammenhang zu bringen. Er war ein Angehöriger der bürgerlichen Klasse, noch dazu in einem Bereich der Luxusproduktion – und war schon von daher zum Untergang bestimmt“, schreibt er.

Nicht minder interessant und aufschlussreich in diesem Kontext ist die Lebensgeschichte von Polina Schemtschuschina, der Ehefrau des sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Molotow, die Schlögel parallel zur Vita von Coco Chanel erzählt.

Anfang der 30er Jahre wird Schemtschuschina, die sich in der Partei hochgedient hat, Direktorin des Betriebs Neue Morgenröte. Nach zwei Jahren übernimmt sie die Leitung des staatlichen Parfümerietrusts TeShe. Weitere Stationen auf der Karriereleiter sind die Berufung zur Volkskommissarin unter anderem für Parfum und Kosmetik sowie ein Kandidatenstatus im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei. Dann wendet sich das Blatt. 1949 wird Schem­tschuschina wegen Verbindung zu zionistischen Kreisen verhaftet und für fünf Jahre in die Verbannung geschickt. Nach dem Tod Stalins im Jahr 1953 kommt sie auf Befehl des damaligen Geheimdienstchefs Lawrenti Berija frei. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1970 bleibt sie eine fanatische Anhängerin Stalins.

Die Haft und Verbannung Schemtschuschinas nimmt Schlögel zum Anlass für einen kurzen Exkurs über eine andere Welt: die des Rauchs der NS-Krematorien und des Geruchs der Kolyma. Die Kolyma steht als Pars pro toto für das Gulagsystem, in dem Millionen Menschen zu Tode kamen und das der Schriftsteller Warlam Schalamanow, der selbst 17 Jahre in Lagern verbrachte, so eindrücklich beschrieben hat. In dieser Hölle aus Eis und Schnee prägt sich nicht der Geruch nach Tod und Verwesung ein, sondern der von Brot. Er steht für das nackte Überleben.

Schlögels Tour d’Horizon endet mit einem Blick auf die Entwicklung nach dem Ende der Sowjetunion 1991. Exklusive ausländische Marken fluten auch den russischen Markt. Zwar erfährt auch „Rotes Moskau“ eine Renaissance, bleibt aber eine Randerscheinung, die allenfalls Nostalgiker und Sammler interessiert.

Alles in allem hat Schlögel mal wieder den richtigen Riecher. Allerdings mutet der Autor seinem Publikum schon einiges zu mit diesen knapp 200 Seiten, die randvoll gefüllt sind mit Informationen. Dennoch bleibt: Die Lektüre lohnt und macht Lust darauf, die Nase auch mal in andere geschichtliche Epochen zu stecken.