Nicht mehr nur mit Männern abhängen

Zehn Jahre nach dem Bestseller „Deutschboden“ kehrt Moritz von Uslar in die ostdeutsche Provinz zurück und findet, anders als beim ersten Mal, puren Faschismus

Wachposten fürs Kleinstadt-Volk Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz

Von Thomas Winkler

Jetzt, diesmal soll, wenn schon nicht alles, dann doch vieles anders sein. Der Reporter – wie er sich selbst nennt, sich schon damals nannte – soll jetzt endlich ein echter Reporter sein. Nicht nur er selbst weiß es, auch seine Protagonisten. Als Moritz von Uslar zum zweiten Mal in Zehdenick ankommt, zehn Jahre nachdem er das Städtchen in der platten brandenburgischen Einöde zum ersten Mal besucht hatte und ihm mit „Deutschboden“ ein wackliges Denkmal setzte, gibt ihm sein Held Raul für den zweiten Versuch, für „Nochmal Deutschboden“, mit auf den Weg: „Das muss eine politische Reportage werden, Moritz.“

Damals, vor zehn Jahren, charakterisierte von Uslar sein Werk als „teilnehmende Beobachtung“, in Rezensionen wurde „Deutschboden“ gar als Roman bezeichnet. Zehdenick war als „Hardrockhausen“ mehr schlecht als recht getarnt, trotzdem aber wurde der Bericht des Zeit-Autors flächendeckend für ziemlich bare Münze genommen. Da war einer aus der Mitte Berlins in die Peripherie aufgebrochen, ins Unbekannte, jedenfalls von seinem Stammlokal Grill Royal aus gesehen. Er wollte den Osten entdecken, ja erklären. Und, mehr noch, er wollte Licht nach Dunkeldeutschland bringen.

Allerdings: Einige, um nicht zu sagen viele – auch Menschen, die Zehdenick gut kannten, weil sie dort lebten oder gelebt hatten –, fanden, dass von Uslar trotz dreimonatigem Aufenthalt einen, sagen wir mal, etwas eindimensionalen Einblick in die brandenburgische Kleinstadt gewonnen hätte. Manche sagten auch, er wäre seinen Protagonisten auf den Leim gegangen. Was man aus „Deutschboden“ auf jeden Fall herauslesen konnte: Das Buch war in seiner fiebrigen Begeisterung brillant geschrieben, aber von Uslars Recherchebemühungen hatten offensichtlich vornehmlich darin bestanden, mit den Mitgliedern der Kellerband 5 Teeth Less regelmäßig einen über den Durst zu trinken.

Im Nachgang war das wohl dem Reporter selbst aufgegangen, dass er einer Erzählung vom wilden exotischen Osten, bevölkert von unverstellten Eingeborenen, aufgesessen war. „Aber ich war ja auch deshalb ein zweites Mal in die Kleinstadt gekommen, um mein Hirn ein bisschen mehr anzustrengen“, gesteht er gleich zu Beginn von „Nochmal Deutschboden“.

Moritz von Uslar: „Nochmal Deutsch­boden. Meine Rückkehr in die brandenburgische Provinz“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 336 S., 22 Euro

Denn in den vergangen zehn Jahren war viel passiert. Nicht nur war „Deutschboden“ ein Bestseller geworden, nicht nur hatte von Uslar kräftig Gegenwind bekommen, nicht nur hatte die in Zehdenick aufgewachsene Manja Präkels mit „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ so etwas wie eine Entgegnung zu „Deutschboden“ verfasst, mit dessen Autor eine Auseinandersetzung über Zeit und Spiegel ausgetragen und ihm den „verklärenden Blick des Berliner Szenegängers“ auf die angeblich geläuterten Ex-Nazis bescheinigt – nicht nur das, auch die Zeiten hatten sich geändert.

Zwischenzeitlich – um genau zu sein, 2013 – war eine, so von Uslar, „saudumme, komplett unbegabte Partei“ namens AfD gegründet worden. Und während der Reporter vor Ort ist, im Sommer 2019, finden ein paar Wahlen statt, bei denen diese AfD Prozentzahlen erreicht, die sie zumindest in einigen Landstrichen zur Volkspartei befördern. „Hier musste also – wie hieß das gleich? Ach ja – recherchiert werden“, stellt von Uslar fest und fragt sich: „Dreißig Jahre nach Mauerfall, wie ging’s der deutschen Seele?“ Also bricht er noch einmal auf, um abzuhängen mit den „Gesichtstätowierten, Kurden, Flüchtlingen, den ewigen Hartz-IV-lern, den Kleingangstern, den Schwindeligen und den Komplett-Weggehämmerten“, mit „den Arschgeigen, den Hässlichen, ­Kaputten“, kurz mit „dem ganzen wunderbaren Kleinstadt-Volk“. Und die enttäuschen ihn nicht. Schon auf Seite 17 lässt einer das N-Wort fallen, eine Seite später gibt es eine geile Szene, die so geil ist, dass von Uslar extra noch mal darauf hinweisen muss: „Was für eine geile Szene.“

Überhaupt, was vor zehn Jahren oft unkommentiert stand, wird nun nachgerade pflichtschuldigst erklärt und gerechtfertigt. Der literarischen Qualität des Textes tut das nicht unbedingt gut. Denn das ist die Krux: Diesmal soll es nicht einfach nur geil sein. Von Uslar will, das merkt man schnell, vieles anders, manches besser machen. Er guckt zusammen mit alten Kumpels das Rammstein-Video „Deutschland“, er geht zur Veranstaltung der BI im Sportlerheim, fährt mit dem Bäckerbus über die Dörfer, er organisiert sogar eine Bürgersprechstunde mit der Europawahl-Spitzenkandidatin der SPD Katharina Barley in einem Kneipenhinterzimmer und besucht das Flüchtlingsheim.

Zitat

Name Nachname, Funktion

Er sucht Aluhütchenträger, sitzt in der Kneipe neben Reichsbürgern und trifft auf dem Marktplatz schließlich vier Lokalpolitiker der AfD, auch wenn er großen Wert darauf legt, kein echtes Interview zu führen in „jenem hohen, gleichzeitig siegesgewiss anklagenden und selbstgerechten Ton, der so kolossal nerven konnte und von Vertretern der Qualitätspresse so zuverlässig angeschlagen wurde“. Trotzdem lässt er sich diesmal wirklich die Lebensgeschichten der Zehdenicker erzählen, er will deren gebrochene Biografien hören, die so gern in Sonntagsreden beschworenen Lebensleistungen würdigen. Er will, so wirkt es, was gutmachen. Er will sogar endlich mal nicht mehr nur mit Männern abhängen. Doch als er mit der „schönen Bäckersfrau“ ins Gespräch kommt, enthüllt die schnell ihre Ressentiments gegen Ausländer.

Und hier sind wir bei der These von „Nochmal Deutschboden“: Es habe, diagnostiziert der Reporter, in den letzten zehn Jahren ein Rechtsruck stattgefunden in Hardrockhausen. Er zitiert Speedy, den vor der Ankunft der Asylbewerber einzigen Dunkelhäutigen im Städtchen: „Neger, Nigger, Scheiß-Asylanten-Pack, das sei in der Stadt einfach der gängige Umgangston.“ Er findet einen „ganz gewöhnlichen rechten Volkszorn“ und den „ganz normalen Rechtsradikalismus, der in den Mauern der Kleinstadt steckte“. Fazit: Es ist der „pure Faschismus“. Die Frage, die sich da allerdings aufdrängt: Ist das Zehdenick von heute wirklich ein so ganz anderes als das von vor zehn Jahren? Oder hat von Uslar bloß besser hingeguckt?

Am Herrentag fängt er sich endlich jene Backpfeife ein, die er sich, das vermutet er selbst, schon mit dem ersten Buch verdient hatte. So ist „Nochmal Deutschboden“ fast ein Gang nach Canossa, eine Abbitte geworden, die für den Leser – neben einigen sehr unterhaltsamen Szenen und ein paar ganz interessanten Einblicken – dann doch vor allem eine Erkenntnis bereithält: Der Osten Deutschlands mag sich verändert haben. Aber eines, das hat sich ganz sicher verändert, und das ist der Reporter Moritz von Uslar.