Europäische Union schweigt zur Türkei

Nach der einseitigen Öffnung der türkisch-griechischen Grenze wirkt die EU wie gelähmt. Derweil wirbt Kanzlerin Angela Merkel für neue Türkei-Hilfen

Die Europäische Union tut sich schwer mit der humanitären und politischen Krise an ihrer Außengrenze zur Türkei. In Brüssel jagt eine Krisensitzung die nächste, doch eine klare Linie zeichnete sich am Montag – drei Tage nach der einseitigen Öffnung der Grenze durch den türkischen Despoten Recep Erdoğan – immer noch nicht ab.

Vor allem die EU-Kommission wirkt wie gelähmt. Als am Montagmittag die Meldung vom Tod eines Flüchtlingskinds vor der griechischen Insel Lesbos bekannt wurde, sprach EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gerade über den Kampf gegen das Coronavirus. Das Flüchtlingsdrama musste warten. Auch zu Erdoğans neuen Provokationen wollte sich niemand äußern. Die Grenze zu Griechenland werde so lange weiter offen bleiben, drohte Erdoğan vor Parteikadern, bis die EU „ihren Teil der Last“ trage. Das ist ein offener Verstoß gegen den 2016 geschlossenen Flüchtlingspakt – doch Brüssel schweigt. Für die Zurückhaltung – manche sprechen von Versagen – gibt es viele Gründe.

So hat die EU nach der Migrationskrise 2015 versprochen, den „Schutz der Außengrenzen“ voranzutreiben und eine „europäische Lösung“ für die Verteilung der Flüchtlinge zu suchen. Doch diese Lösung ist ausgeblieben. Aufnahmebereite Länder wie Deutschland und Hardliner wie Ungarn blockieren sich gegenseitig. Nur am „Schutz der Außengrenzen“ halten alle EU-Staaten fest, zumindest auf dem Papier. Doch die dafür zuständige EU-Grenzschutzbehörde Frontex ist immer noch nicht voll einsatzfähig und bisher kaum vor Ort aktiv. „Wir schauen uns an, wie wir Griechenland am besten in der möglichst kürzesten Zeit unterstützen können“, teilte die Behörde auf Twitter mit. Das klang hilflos angesichts interner Warnungen, die Frontex nach Angaben der Welt herausgegeben hat. „Massenmigrationsströme nach Griechenland erwartet“, heißt es da. Es werde „schwer sein“, den Andrang „zu stoppen“.

Wie gelähmt wirkt die EU auch beim Flüchtlingsdeal. Einerseits wollen die meisten Staaten an der rechtlich unverbindlichen und ursprünglich auf vier Jahre befristeten Vereinbarung festhalten. Andererseits möchten sie aber auch nicht den Eindruck er­wecken, der Erpressungstaktik Erdoğans nachzugeben. Außerdem ist da noch die ungelöste Frage, wer für eine Reaktivierung des Deals ­zahlen soll, wie sie vor allem in Deutschland gefordert wird. Kanz­lerin Merkel hat zwar Bereitschaft signalisiert, Erdoğan mit neuen Milliardenhilfen unter die Arme zu greifen. Doch im EU-Budget ist kein Geld dafür da.

Die meisten Staats- und Regierungschefs verlegen sich daher auf die einfachste Lösung und fordern Hilfe für Griechenland. Am Dienstag wollen sogar die Präsidenten der drei EU-Institutionen – von der Leyen für die EU-Kommission, Charles Michel für den EU-Rat und David Sassoli für das Parlament – an die griechisch-türkische Landgrenze reisen.

Dort wollen sie sich mit dem griechischen Premier Kyriakos Mitsotakis treffen. Der Besuch soll ein Zeichen der Solidarität sein und den Eindruck vermitteln: die EU habe die Lage im Griff. Dass Athen mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Frauen und Kinder vorgeht und das Asylrecht aushebelt, dürfte dabei untergehen. In Brüssel ist es jedenfalls – bisher – kein Thema. Eric Bonse, Brüssel