Im Leben verloren

Wie in Israel die allgegenwärtige Angst vor dem Tod zur Angst vor dem Leben wird: Am Schauspielhaus in Hamburg macht Dušan David Parízek aus David Grossmans Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ großes, intimes Schauspielertheater

Per Overhead-Projektor illustruieren die Schauspieler jede Szene Foto: Fotos (2): Matthias Horn

Von Jens Fischer

Der Krieg ist da. Von Beginn an. Und will nicht enden. Es geht um den permanenten Ausnahmezustand, der sich als willkürliche äußere Kraft des Lebens bemächtigt und es zerfrisst durch die ständige befeuerte Angst vor militärischer oder terroristischer Gewalt, der stets unmittelbar folgenden Gegengewalt und so weiter. Es geht um Israel – aus der Sicht des Schriftstellers David Grossman. Verhandelt wird die Dramatisierung seines Romans „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ in der Betonbunker­atmosphäre des Malersaals am Schauspielhaus Hamburg. Waffenlärm und Schreie sind zu hören. Wie im Grab sei das hier, meinen die von Alpträumen geplagten Ora und Avram. Ilan ist im Delirium seines krankheißen Körpers ebenfalls ein Vertreter dieser These.

Höchst ansteckend infiziert treffen sie 16-jährig in der Isolierstation eines Krankenhauses während des Sechstagekrieges 1967 aufeinander. Die pubertären Nöte und ihr fieberndes Dasein bringen die Jugendlichen zusammen. Sie werden sich nimmer loslassen, miteinander verstrickt auch in Liebe, Leid, Schuld und Sühne. Grossman will explizit aufzeigen, warum das Politische vom Privaten nicht zu trennen ist im ewigen Sperrfeuer des Nahost-Konflikts. Er schrieb dieses Buch, als sein Sohn bei einem Einsatz im zweiten Libanon-Krieg getötet wurde.

Grossman thematisiert als israelischer Friedensaktivist aber auch die Furcht, den eigenen Staat wieder zu verlieren, und argumentiert gegen die Aggressionspolitik seines Landes ebenso wie gegen die dem Völkerrecht hohnsprechenden anti-palästinensischen Schutzwälle an der Grenze zum Westjordanland.

Vor allem fokussiert Dušan David Parízeks Inszenierung aber Grossmans Kritik an der Armee. Dort verstaatlichte Kinder würden nie wieder heimkommen, weiß Ora (Ute Hannig). Denn sie hat erlebt, wie der feinsinnige, empfindsame, aus Tiermitleid streng vegetarisch lebende Sohn (Paul Herwig) während des dreijährigen Wehrdienstes ihr und sich selbst entfremdet, ja, verroht wurde.

Ofer heißt er und hat bei seiner Rückkehr aus der Kaserne die offizielle Politpropaganda, Verteidigungsnot als Kriegslust und Feindbilder in ihrem Rassismus verinnerlicht. Dieser Ofer ist nicht mehr Oras Sohn aus Kinder- und Jugendtagen. Aber sie liebt ihn trotzdem. Noch schmerzhafter wäre es daher, wenn ihr Kind gar nicht wieder-, also in den Kämpfen umkommen würde. Ora ist geradezu panisch vor dieser Situation. Aus einem konkreten Grund. Ofer hat seine Wehrpflicht absolviert, ist von der Mutter zum Wanderurlaub eingeladen, meldet sich stattdessen aber freiwillig zu einem Sondereinsatz der Armee.

Wütend in ihrer Ohnmacht kann und will Ora nicht noch einmal auf sein Überleben hoffen, muss irgendetwas tun, zieht sich halt- und rastlos immer wieder aus und an und aus und an, schnippelt Salat, was einem Gemetzel gleichkommt. Und wählt schließlich die Flucht und nötigt Avram (Markus John), mit ihr auf einem grauen Spielgeviert den für Ofer geplanten Ausflug zu unternehmen.

Am vielschichtigen Spiel von John und Hennig zeigt sich, dass hier nicht einfach nur ein Roman nacherzählt, sondern empathisch zu Theater wird

Avram ist Ofers biologischer Vater, sah sich nach seiner Foltererfahrung in ägyptischer Kriegsgefangenschaft aber nicht in der Lage, diese Rolle einzunehmen und plädierte für Abtreibung, um dem Sohn Kriegsschrecken zu ersparen. Ora aber bekam das Kind und zog es mit Ilan (Paul Herwig) groß. Avram vegetierte derweil als traumatisiert gebrochener Mann dahin.

„Du Ruine“, sagt Ora. Beide stehen unter Hochdruck und verstehen ihren Outdoor-Trip auch als Versuch magischen Denkens: Laptop und Handy haben sie zu Hause gelassen und hoffen, wenn die mögliche Hiobs­botschaft vom Tod des Sohnes per Bote, E-Mail, Brief überbracht werden sollte, sie aber nicht zu Hause sind, die Nachricht also gar nicht übermittelt werden kann, dann würde auch ihr Inhalt nicht Realität.

Zusätzlich halten die Eltern ihren Sohn im Reden über ihn und durch gespielte Rückblenden mit ihm am Leben. Wobei Avram ganz vorsichtig wieder zurückfindet ins Leben. Es ist schon ein widerständiger Akt der beiden, sich den politischen Strukturen zu entziehen und zunehmend die Überzeugung zu entwickeln, nicht mehr Kriege zu gewinnen, nicht das zionistische Projekt triumphieren lassen zu wollen, sondern nur noch auf eine ruhiges, kleines, unheroisches Dasein zu pochen.

Am vielschichtigen Spiel von John und Hennig zeigt sich, dass hier nicht einfach nur ein Roman nacherzählt, sondern empathisch zu Theater wird. Da er mit seinen Naturbeschreibungen auch eine Ode an die lebendige Wüstenlandschaft ist, bemüht sich Herwig bezaubernd auch als Geräuschemacher darum, das Rauschen des Windes, summende Insekten, singende Vögel, grummelnde Bergziegen hörbar zu machen.

Alle Darsteller illustrieren zudem die Szenen per Overhead-Projektoren mit Zeichnungen wilder Tiere, deuten umgebende Gebirge an oder abstrahieren intime Zwiegespräche zu Schattenspielen. Die behutsame, schonungslos genaue Regie geht mit den lebenssatten Figuren gedanklich überall hin, erkundet ihre Antriebe, weiß nichts besser, nimmt alles kompromisslos ernst. Die Aufführung entwickelt so eine beeindrucke Klarheit in der emotionalen Intensität.

Flüchten vor der gefürchteten Nachricht vom Tod des Sohnes in die Wüste: Ora und Avram

Wobei hinter der individuellen Not eben auch das Psychogramm einer vom militärischen Denken durchdrungenen Bevölkerung sichtbar wird: Immer wachsam vor den täglich möglichen Selbstmordan- oder Raketeneinschlägen sein zu müssen, stets Misstrauen gegenüber Arabern hegen zu sollen. Die Angst vor dem Tod wird so zu einer Angst vor dem Leben. Deswegen sind Ora und Avram fast wahnsinnig.

Grossman und Parízek lassen keinen Zweifel daran, dass sie Araber und Israelis als Opfer sehen. Auch wenn vor allem die Perspektive Oras stückbestimmend ist. Der jüdische Staat habe keine Chance, sagt sie. Stünden 4,5 Millionen Israelis doch eine Milliarde Muslime gegenüber. Ein Bedrohungsszenario, das die eigene Verwundbarkeit offenkundig scheinen lasse. Und Ofers Argumentation in die Hände spielt. So ist für ihn seine Begeisterung für Panzer, Männlichkeitsklischees und die Armee als Zeichen der Stärke einfach konsequent. Er setzt also auf Gewalt gegen das Gefühl der Schutzlosigkeit. Was ja nur eine Illusion von Macht und Sicherheit vermitteln kann, da die Konflikte so nicht gelöst, sondern potenziert werden.

All diese Widersprüchlichkeiten arbeitet der Abend fein heraus und macht aus Weltpolitik großes Schauspielerthea­ter. Hilfreich, wie die beeindruckend kompakte Textfassung des Ensembles den Kern des über 700 Seiten langen Romans seziert. Den Krieg. Er ist da. Von Beginn an. Allgegenwärtig. Ende offen.

„Eine Frau flieht vor einer Nachricht“: 24. 3., 25. 3., 4. 4., 5. 4., 19.30 Uhr, Hamburg, Schauspielhaus/Malersaal