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Kommt ein Städter auf den Bauernhof …

Solidarische Landwirtschaft und Bürgeraktien – oder: Wie gehen Kapitalismus und Ökolandbau zusammen? Rund um Berlin gibt es inzwischen eine kleine Zahl von Höfen, die Städter mitfinanzieren, mitgestalten und natürlich auch immer besuchen können

Christian Hiß: „Richtig rechnen. Durch die Reform der Finanzbuchhaltung zur ökologisch-ökonomischen Wende“. Oekom Verlag. München 2015

Christian Hiß: „Regionalwert AG. Mit Bürgeraktien die regionale Ökonomie stärken. Ein Handbuch mit praktischen Hinweisen zu Gründung, Beteiligung und Umsetzung. Herder Verlag“, Freiburg 2014

Stephanie Wild: „Sich die Ernte teilen. Einführung in die Solidarische Landwirtschaft. Joy Edition Verlag, Heimsheim 2012.

Thünen Report 65: „Leistungen des ökologischen Landbaus für Umwelt und Gesellschaft.“ Braunschweig, Januar 2019. Online zu beziehen unter: https://www.thuenen.de/de/infothek/publikationen/thuenen-report/. Das Thünen-Institut ist ein Bundesforschungsinstitut.

Von Christiane Seiler

Boris Laufer steht auf seinem Acker in Eggersdorf. Liebevoll hält er eine tiefpurpurne, dralle Rote-Bete-Knolle in den erdigen Händen. Laufer ist Gärtnermeister auf dem „Apfeltraum“, einem unmittelbar nach der Wende gegründeten Pionier des Ökolandbaus in Brandenburg. Der Apfeltraum ist eigentlich mehrere Höfe: Gärtnerei, Feldbau, Tierhaltung und Imkerei liegen östlich von Berlin und bewirtschaften insgesamt rund 150 Hektar Land. Bis Mitte 2017 war die Apfeltraum-Gärtnerei noch auf verschiedenen Berliner Wochenmärkten präsent, aber dann hat man sich zu einer radikal anderen Vermarktungsstrategie entschieden: Solidarische Landwirtschaft.

Zahllose Möhrensorten von weiß bis dunkelrot, Tomaten in extravaganten Formen und Farben, Mangold, Sellerie, Salat und vieles mehr baut Laufer seit 2002 zusammen mit seiner Frau Anette Glaser nach Demeter-Standard an. Der verlangt auch, dass der Dünger für die Äcker von eigenen Tieren produziert wird. Deshalb grasen im Obstgarten neben dem Acker einige braune und schwarzgefleckte Rinder.

„Der märkische Sand ist kein besonders vorteilhafter Boden für Gemüse“, sagt Laufer. Aber mit den Jahren hätten sie es geschafft, die Bodenfruchtbarkeit zu verbessern und die Produktivität ihrer Felder zu steigern. Das alles sei harte Arbeit für wenig Gewinn und immer mit Risiken behaftet: Wetter, Pflanzenwachstum, Großmarktpreise.

Die Alternative sehen Glaser und Laufer in der Solidarischen Landwirtschaft. SoLaWi“ verspricht den Gärtnern Unabhängigkeit von den vom Markt diktierten Preisen, der schlecht kalkulierbaren Abnahme durch die Kunden und den Unwägbarkeiten von Witterung und sonstigen Umwelteinflüssen. Die Idee, die in den 1960er Jahren in Japan entstand, ist einfach. Im Grunde handelt es sich dabei um erweiterte Selbstversorgung, nur dass nicht jeder selbst einen Schrebergarten bewirtschaften oder ein Stück Land bestellen muss. Vielmehr tun sich Menschen, die sich regional und ökologisch erzeugtes Gemüse wünschen, mit einem Gärtnereibetrieb ihres Vertrauens zusammen, der dieses Gemüse anbaut, Kunden werden so zu Mitgliedern einer Produk­tionsgemeinschaft, Gärtner bekommen Planungssicherheit.

Konkret funktioniert das beim Hof Apfeltraum so: Alle setzen sich Anfang des Jahres zusammen, planen, was angebaut werden soll, und entscheiden über den monatlichen Mitgliedsbeitrag – 2019 waren es 83 Euro, das soll auch 2020 so bleiben. Für ihren Beitrag beziehen die Mitglieder einen wöchentlichen Ernteanteil. Anbau und laufende Kosten sind dadurch finanziert, Boris Laufer, Anette Glaser und ihre Mitarbeiter sind nicht mehr von den Schwankungen der Marktpreise abhängig. Die Ernteanteile werden einmal wöchentlich an Lager, meist in Berlin, geliefert, wo die Mitglieder sich selbst organisieren und das Gemüse unter sich aufteilen. Der angenehme Effekt dieser Arbeitsteilung: Den Gärtner*innen bei Apfeltraum bleibt mehr Zeit für die Arbeit auf dem Feld, die Work-Life-Balance auf dem Hof hat sich stark verbessert. Alle Produkte werden garantiert abgenommen; wenn ein Mitglied in Urlaub fährt, kann er oder sie den Ernteanteil nicht stornieren, aber weitergeben. „Das würde doch an der Supermarktkasse keiner machen, einfach den Teil der Möhren, den er nicht braucht, an den Hintermann weiterreichen“, schmunzelt Boris Laufer.

Über Preise, etwa von einem Kilo Möhren, werde dabei nicht mehr gesprochen, man wolle weg vom Preis hin zu einer Wertigkeit. Und in diese Wertigkeit fließt mehr ein als der vom Großhandel diktierte Kilopreis, den man auf dem Wochenmarkt oder im Supermarkt bezahlen müsste. Zur Wertigkeit gehören der enge Kontakt zu einem Bauernhof im Umland, die Möglichkeit, mitzubestimmen und mitzumachen, der Kontakt zu anderen Mitgliedern in der lokalen Verteilergruppe, das gute Gefühl, zu einer ökologischen und sozial verträglichen Landwirtschaft beizutragen. Der Draht zu den Kunden, die zu Mitgliedern geworden sind, sei kurz, insgesamt die Vernetzung in der SoLaWi-Szene gut, meint Laufer. Darüber hinaus gibt es einen regen Wissenstransfer in Form von Veranstaltungen und Vorträgen, die sogar auf YouTube zu sehen sind.

Anbaurisiken werden auf mehrere Schultern verteilt, wenn etwa, wie im heißen Sommer 2018 geschehen, ein Teil der Ernte auf dem Feld verkümmert. „Deshalb bauen wir möglichst viele Arten und Sorten an. Wenn eine Frucht nicht gut wächst, dann bestimmt eine andere“, erläutert Boris Laufer und berichtet von einer weiteren Entwicklung, die ihn selbst überrascht: „Wir bauen zwar weniger an, haben mehr Gründüngungs- und Ruheflächen, aber auf den regenerierten Feldern wächst dann mehr. Die Ernte hat sich verbessert, die Erträge pro Quadratmeter sind gestiegen.“ 2020 würde die SoLaWi gerne auf 180 Mitglieder wachsen, damit wäre der Betrieb dann ausgelastet.

„Richtig rechnen“ heißt ein 2015 im Münchner Oekom-Verlag erschienenes Buch des Gärtnermeisters und Unternehmers Christian Hiß. Ein Grundlagenwerk der SoLaWi-Szene. Darin demonstriert er, was alles in den herkömmlichen betriebswirtschaftlichen Berechnungen eines landwirtschaftlichen Betriebes nicht vorkommt: Reduzierung der Bodenfruchtbarkeit durch Raubbau als negativer Faktor oder Vermehrung der Bodenfruchtbarkeit durch biodynamische Wirtschaftsweise als positiver Posten in der Bilanz —zum Beispiel. Anstatt zu warten, dass neue Gesetze und EU-Förderrichtlinien den sozialen, ökologischen und ästhetischen Mehrwert der nachhaltigen Landwirtschaft berücksichtigen und honorieren, gehen einige Betriebe findige Sonderwege – so auch der Agraringenieur Jakob Ganten.

Schon 2005 hat er die Gründung der Apfeltraum Aktiengesellschaft betrieben, weil man für verschiedene Investitionsvorhaben damals keine Kredite und Fördermittel fand. An Stelle eines Fördervereins oder einer GmbH gründete man die AG. „Wir fanden: Wer mehr investiert, soll auch mehr Mitspracherecht besitzen“, meint Ganten. Kapitalismus und Ökolandbau – kann das zusammengehen? Der Schritt gelang, mit dem eingeworbenen Geld wurde ein Seitengebäude aus Feldsteinen saniert. Der nächste Schritt ergab sich im Sommer 2018: Im Juni wurde die Apfeltraum AG in eine neu gegründete Regionalwert AG Berlin-Brandenburg überführt. Derartige Aktiengesellschaften gibt es bereits in der Region Freiburg, im Rheinland, bei München und bei Hamburg.

Die Idee dabei: Aktionäre erwerben Bürgeraktien, das eingesammelte Kapital wird gezielt in Form von Beteiligungen in Kleinbetriebe im Umland investiert, natürlich Betriebe, die den ökologischen und sozialen Kriterien der Regionalwert AG entsprechen; etwa in einen neuen Hühnerstall, ein Gewächshaus oder Verarbeitungsräume. Dabei geht es nicht nur um Landwirte, sondern zum Beispiel auch um Vermarktungsbetriebe oder Gastronomie. Ein Aufsichtsrat wacht über die sinnvolle Vergabe der Gelder. Der Bedarf ist groß, schließlich ist die Bundeshauptstadt ein wachsender Absatzmarkt für ökologisch erzeugte Produkte. Je nach eingebrachtem Kapital erhalten die Aktionäre Mitspracherecht in der Hauptversammlung, wie bei jeder normalen Aktiengesellschaft auch.

„Unsere Gründungsaktionäre haben knapp 100.000,00 Euro eingebracht, die Kapitalerhöhung 2019 dann noch einmal 1,1 Millionen Euro“, erläutert Timo Kaphengst. Zusammen mit dem Landwirt Jochen Fritz bildet er den Vorstand der Regionalwert AG Berlin-Brandenburg. Rund 700 Aktionäre sind inzwischen zusammengekommen, darunter auch zwei Großaktionäre. Mit diesem Geld lasse sich schon einiges bewegen, meint Kaphengst zufrieden. An drei Betrieben ist die AG derzeit beteiligt, darunter der Dorfladen Reichenberg in der Märkischen Schweiz. Der wird im März seine Tür öffnen, und zwar in einem Gesundheitszentrum, in dem sich auch eine vom DRK betriebene Kita und eine Tagespflege für Senioren befinden.

Die nächste Kapitalerhöhung steht 2020 an. Eine Aktie hat den Nennwert von 1 Euro, der Mindestzeichnungswert beläuft sich auf 500 Euro. „Eins sollte jedem klar sein: die Aktie einer Regionalwert AG erwirtschaftet kurzfristig keine Geldrendite, obwohl auf lange Sicht natürlich nicht ausgeschlossen ist, dass auch einmal Dividende ausgeschüttet wird“, meint Kaphengst. An der Börse gehandelt werden die Regionalwert-Aktien auch nicht. Wenn die Rechnung aufgeht, besteht die Rendite in anderen Werten: Nachhaltig wirtschaftende Betriebe können wachsen oder sich neu gründen, die Lebensmittelversorgung in der Region wird vielfältiger, die Beziehung zwischen Stadt und Land gestärkt, Verödung auf dem Land wird gestoppt, Arbeitsplätze werden gesichert. Das Charmante an dieser Vision: Niemand muss warten, bis die EU ihre Agrar-Förderrichtlinien ändert und die Bundesregierung sich für nachhaltige Landwirtschaft starkmacht.