: Künstlich, eiskaltund sehr glamourös
Ein Berlinroman, der in den coolen Achtzigern spielt, von China aus berichtet. Hinrich von Haarens „Blaues Reich. Winterstadt“ erzählt die Geschichte einer beschädigten Kindheit
Von Susanne Messmer
„Blaues Reich. Winterstadt“ ist das dritte Buch Hinrich von Haarens und sein zweiter autobiografisch gefärbter Roman über einen jungen Mann. Wie seine Romanfigur hat auch der 1964 geborene Autor, der seit einem Vierteljahrhundert in London lebt, im Westberlin vor dem Mauerfall Sinologie studiert und sich dann auf eine lange Reise in das unbekannte Land China begeben. Doch schon auf den ersten Seiten wird klar, dass es diesem jungen Mann nicht wirklich um das „blaue Reich“ geht, sondern um eine austauschbare Unvertrautheit. Er muss den sozialen Tod sterben, sich aus allen Bindungen lösen und radikal einsam sein. Niemand in China wird ihn verstehen, es wird zu keiner einzigen echten Begegnung kommen. Für ihn ist es das, was er braucht, um zu verdauen, was er zuvor in Berlin erlebt hat.
Es handelt sich bei „Blaues Reich. Winterstadt“ also gar nicht, wie anfangs vermutet, um einen China-, sondern um einen Berlinroman. Hinrich von Haaren beginnt, aber auch das ist eine falsche Fährte, eine oft erzählte Geschichte vom Menschen aus der Provinz, der im winterlichen, kotzhässlichen Berlin mit seinen abgefuckten Kneipen, Bars und Cafés mit einer Handvoll sehr verschiedener Menschen eine Freiheit zu erfinden versucht, wie es sie noch nie gegeben hat.
Erst läuft noch alles nach Plan: Der Erzähler stolpert gleich am ersten Tag in der Uni über eine Kommilitonin, fortan verbringen sie mehr Zeit im Kino Delphi am Zoo und im Schöneberger Stammcafé als im Seminar. Allmählich „pellt sich“ der Erzähler, so von Haaren, aus den „alten Brandhagener Lebensregeln“. Brandhagen: Das ist der Ort der Marschen, Moore und Kanäle, die von Haaren in seinem Debütroman 2012 beschrieben hat, über eine Kindheit eines zarten Jungen in einer eher derb gestrickten Familie, die von einem Haushaltswarenladen für Porzellan und Nippes lebt, nicht gern Worte macht und das Sorgenkind durch sportliche Ertüchtigung auf den richtigen Weg zu bringen versucht.
Dieses Brandhagen ist nun Vergangenheit, genauso wie bald auch die sanft versickernden Tage mit der neuen Freundin. Durch Zufall trifft unser Held eines Tages die Cousine im Stammcafé, Alexandra, die nach dem Studium in Hamburg den elterlichen Laden hatte übernehmen wollen. Neben der Cousine sitzt ihre neue Geliebte, die die Berliner Idylle mit einem Schlag auf den Kopf stellt. Nina verströmt nichts als Gefahr und wird von allen angebetet. Noch am ersten Abend lädt sie die Freunde in ihre karg möblierte Wohnung in der Winterfeldtstraße, wo sie im Kühlschrank nichts als eine Flasche Wodka, ein hart gekochtes Ei und fermentierten Tofu findet. Allen bleibt einfach nur die Spucke weg, wenn Nina von den Internaten berichtet, von denen sie flog, vom Ausreißen nach London, von den drei Abtreibungen.
Nina ist eine Figur, die geradewegs aus einem New-Wave-Musikvideo der Achtziger entstiegen sein könnte: künstlich, eiskalt und sehr glamourös. Sie macht sich sehr gut beim Ausgehen in all den Szeneläden, die man heute nur noch vom Hörensagen kennt: Im Risiko, Lipstick, Fischlabor. Sie ist aber auch die Figur, die Hinrich von Haarens Roman endlich in Gang setzt und fortan trägt, denn nach und nach kommt heraus, dass sie mit gutem Grund von mehr oder weniger erfolgreichen Künstlergestalten umschwärmt wird.
Nina hat eine Kindheit erlebt, die allen nur anfangs sehr exotisch und abenteuerlich erscheint. Ihre Mutter, so berichtet sie mit aufgesetzter Leichtigkeit, versank sofort in Depressionen, nachdem der wohlhabende deutsche Vater sie wie ein Souvenir aus Hongkong nach Frankfurt geschleppt hatte. Die Mutter dreht durch, daran ändern auch die Geburt von Nina und ihrem Bruder nichts. Nina erinnert sich an endlose Einkaufstouren durch Frankfurt, an Stunden im Auto auf dem Parkplatz, um die Verfolger vorbeifahren zu lassen, an die kahlen Stellen auf dem Kopf der Mutter, kurz bevor sie aus dem Fenster sprang. Ninas Fans geht langsam ein Licht auf, aber da ist es schon zu spät, das Weite zu suchen. Sie werden Nina auf ihrem Weg begleiten.
All das versucht der Ich-Erzähler nun in China abzuschütteln, und wirklich scheint das Land erst noch heilsam auf ihn zu wirken.
Aber zunehmend gehen ihm – wie übrigens auch seinen lesenden Begleitern – die Beschreibungen dessen, was um ihn herum geschieht, auf den Geist.
Dieser Mann ist einfach zu beschädigt, um klar zu sehen, er erkennt nur die China-Klischees, von denen man hundertmal gelesen hat und die immer wieder wie zur Beruhigung in die Berlin-Erinnerungen geschnitten werden: Die unfassbaren Menschenmengen, das unglaublich gute Essen. Die Niederschlagung der Demokratiebewegung in China rauscht an ihm vorbei wie die Nachrichten vom Fall der Mauer zu Hause. Und auch, wenn das durchaus gewollt ist, auch, wenn er gar nicht anders hätte funktionieren können, so ist dies doch das einzige Manko an diesem sehr schönen Roman.
Hinrich von Haaren: „Blaues Reich. Winterstadt“. Residenz Verlag, Wien 2020, 224 Seiten, 22 Euro
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